Öffentliche Vorlesungsreihe – Wintersemester 2023/2024

Mainzer Universitätsgespräche – Interdisziplinäre Kolloquienreihe

Eat, Pray, Love? Grundbedürfnisse des Menschen

Alle Lebewesen haben Bedürfnisse. Sie stehen in einem Austausch mit ihrer Umwelt, um die Stoffe zu erhalten, die für ihr Überleben notwendig sind. Steigt die Komplexität von Organismen, dann können Bedürfnisse wie das nach Sicherheit oder Gemeinschaft hinzukommen.

Beim Menschen, dessen kulturelle Evolution sich teilweise von der biologischen gelöst hat, sind zahlreiche weitere Bedürfnisse entstanden: nach Spiritualität, nach Schönheit, nach Selbstverwirklichung etc. Viele zunächst rein biologische Erfordernisse wie Ernährung und Fortpflanzung werden kulturell erweitert und ausgestaltet, so dass die ursprüngliche Funktion oftmals kaum mehr erkennbar ist.

EAT. Sternegastronomie, Veganismus oder die zwanghafte Auseinandersetzung mit gesunder Ernährung dienen nicht nur dem Sattwerden. Sie sichern – als Teil der Selbstverwirklichung eines Individuums – weit mehr als nur das eigene Überleben.

PRAY. Das menschliche Bedürfnis nach spirituellen Erfahrungen mündet in mächtigen Religionen, in denen der Wunsch im Einklang mit etwas "Göttlichem" zu leben, institutionalisiert wird. Spiritualität ist andererseits nicht an etablierte Religionen gebunden und verwirklicht sich zunehmend unabhängig von religiösen Kontexten.

LOVE. Die romantische Liebe oder das Experimentieren mit unterschiedlichsten Modellen von Partnerschaft sind weit davon entfernt, nur der biologischen Fortpflanzung zu dienen. – Und sexuelle Praktiken, bei denen Schmerzerfahrungen gesucht werden, drehen das biologische Grundbedürfnis nach einer Freiheit von Schmerzen regelrecht um.

Dieses Spannungsfeld zwischen den biologischen Grundlagen und der kulturellen Gestaltung der menschlichen Lebenswelt wollen wir zusammen mit Wissenschaftler*innen aus den Kultur-, Lebens-, und Sozialwissenschaften erkunden.


Einführungsvideo zur Vorlesungsreihe:

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Prof. Dr. Christoph Antweiler
Professor für Südostasienwissenschaft, Institut für Orient- und Asienwissenschaften, Universität Bonn
Liebe quer durch die Kulturen –
Ethnologische Befunde und Fragen

Dienstag · 7. November 2023 · 18:15 Uhr · N 1 (Muschel)

Handout als PDF-Datei
Vortragsaufzeichnung

Wenn Liebe romantisch ist, gilt sie in den Geistes- und Kulturwissenschaften gemeinhin als westlich geprägt. Historiker sagen, dass das Konzept im Abendland entstanden und in nichtwestlichen Kulturen auf Eliten beschränkt sei. Neuere kulturvergleichende Forschungen zeigen dagegen, dass vor allem das Erleben romantischer Liebe – bei allen individuellen Unterschieden – quer durch die Kulturen auch Ähnlichkeiten zeigt. Der Vortrag beleuchtet dazu empirische Befunde, erläutert aber auch die zugrundeliegende Forschungsmethodik. Ein breiter Kulturvergleich und der Blick auf vermeintlich ganz andere Gesellschaften offenbart überraschend viel Vertrautes. Kulturen unterscheiden sich darin, wie allgemeinmenschliche Aspekte von Liebe, wie Mitgefühl, Fürsorge, Freude und sexuelle Lust akzentuiert oder aber "herunter gedimmt" werden. So wie es bei menschlichem Leiden ist, ist es auch in der romantischen Liebe: trotz der breiten Vielfalt finden wir einen Kern menschlicher Gemeinsamkeiten.

Christoph Antweiler, geboren 1956 in Moers am Niederrhein, ist Ethnologe und Professor für Südostasienwissenschaft am Institut für Orient- und Asienwissenschaften der Universität Bonn. Er studierte Geologie und Paläontologie (Diplom) und anschließend Ethnologie (Promotion) in Köln. Seine Hauptforschungsgebiete sind Kognition, lokales Wissen, urbane Kultur, Ethnizität sowie Popularisierung der Anthropologie. Seine wichtigsten theoretischen Interessen sind soziokulturelle Evolution, pankulturelle Muster (menschliche Universalien) und lokalisierter Kosmopolitismus und Anthropozän-Theorie. Seine Hauptforschungsregion ist Südostasien, insbesondere Indonesien. Zu seinen Buchveröffentlichungen gehören: "Was ist den Menschen gemeinsam? Über Kultur und Kulturen" (Darmstadt: WBG, 2009, 2012), "Inclusive Humanism. Anthropological Basics for a Realistic Cosmopolitanism" (Taipei: National Taiwan University Press, 2012), "Our Common Denominator. Human Universals Revisited" (New York und Oxford: Berghahn Books, 2016, 2018) und "Anthropologie im Anthropozän" (Darmstadt: WBG Academic, 2022). Sein jüngstes Buch ist "Heimat Mensch. Eine populäre Ethnologie" (Aschaffenburg: Alibri). Antweiler ist Mitglied der Academia Europaea (London) und Mitglied des Internationalen Beirats des Humboldt Forums (Berlin).


Dr. Dipl.-Psych. Barbara Keller
Senior Researcher, Forschungsstelle Biographische Religionsforschung, Universität Bielefeld · Psychoanalytikerin und Psychologische Psychotherapeutin, Köln
Religiös, spirituell – und wie weiter?
Woran wir glauben und wie sich das im Verlauf des Lebens ändert.
Langzeitforschung über Glaubensentwicklung in Deutschland und den USA

Dienstag · 14. November 2023 · 18:15 Uhr · N 1 (Muschel)
Vortragsaufzeichnung

Seit etwa 30 Jahren wird verstärkt von "Spiritualität" gesprochen. Kürzlich haben meine Kolleg:innen und ich dazu in Deutschland und den USA eine Studie durchgeführt, geleitet von Heinz Streib, Universität Bielefeld, und Ralph Hood, University of Tennessee at Chattanooga. Die Hälfte der Befragten bejahte zwischen April 2010 bis Mai 2011 den Satz: "Ich bin eher spirituell als religiös" – unabhängig davon, ob sie einer Kirche angehörten oder nicht. Nicht nur im Alltag hat "Spiritualität" Verbreitung gefunden. Auch Fachbereiche oder Zeitschriften haben "Spiritualität" aufgegriffen und "Religion" zur Seite gestellt.
Uns interessiert bei unseren Forschungen darüber hinaus, wie sich für einzelne Menschen verändert, woran sie glauben, womit sie sich identifizieren, was ihrem Leben Sinn gibt. Das erforschen wir mit ausführlichen Interviews zur Glaubensentwicklung. Wir haben unseren Ansatz zu einem Langzeitprojekt ausgebaut, um auch erkunden zu können, wie sich biographische Rückblicke von einer Befragung bis zur nächsten verändern.
Was meinen Menschen, wenn sie sich als religiös versus spirituell bezeichnen? Oder wenn sie ihre Sichtweisen jenseits dieses Schemas entfalten? Wie gestalten sie die Entwicklung ihrer Glaubensvorstellungen über voranschreitende Zeit, unterschiedliche Entwicklungsaufgaben und soziale und politische Veränderungen hinweg? In unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten unserer immer wieder gefährdeten Welt? Zu diesen großen Fragen kann unsere Forschung Einblicke geben.

Barbara Keller hat in Heidelberg Psychologie studiert und bei C. F. Graumann promoviert, über Rekonstruktion von Vergangenheit bzw. Lebenserinnerungen an das sogenannte "Dritte Reich" und den Zweiten Weltkrieg. Nach Mitarbeit in Forschung und Lehre an Universitäten in Köln, Nimwegen, Dresden und in den Bereichen Sozialpsychologie, Kulturpsychologie, Entwicklung über die Lebensspanne fand sie 2002 an der Forschungsstelle Biographische Religionsforschung der Universität Bielefeld eine Forschungsumgebung, die ihren Interessen an der empirischen Untersuchung von Lebenserinnerungen und der Entwicklung von Weltanschauungen und Religiositäten entgegen kam. Ihr Engagement in den dort entwickelten Projekten ist belegt durch zahlreiche Publikationen und Mitgestaltungen internationaler Lernforen. Neben ihrer religionspsychologischen Arbeit führt Barbara Keller eine psychoanalytische Praxis in Köln. Sie interessiert sich dafür, religionspsychologische und psychoanalytische Sichtweisen zu verbinden.


Dr. habil. Thomas Rolf
Philosoph, Dozent, Autor sowie Gründer und Leiter des Philosophie-Forums Marburg
Weniger ist mehr?!
Minimalismus als Lebenskunst – philosophisch betrachtet

Dienstag · 21. November 2023 · 18:15 Uhr · N 1 (Muschel)
Vortragsaufzeichnung

Minimalismus ist ein durch bewusste Bescheidenheit geprägter Lebensstil, der derzeit vor allem bei der jüngeren Generation im Trend liegt. Für die minimalistische Haltung ist eine Einsicht leitend, die sich in dem Lebensspruch "Weniger ist mehr" ausdrücken lässt: Es geht darum herauszufinden, was und wieviel Menschen wirklich brauchen, um ein zufriedenes Leben führen zu können. Der Vortrag stellt zunächst einige Erscheinungsformen und Motive des Minimalismus dar und geht in einem zweiten Schritt der philosophischen Vorgeschichte minimalistischer Lebenskunstideen nach. Abschließend wird eine systematische Diskussionsperspektive eröffnet: Am Leitfaden des Begriffs der Situation geht es dabei um die phänomenologischen Voraussetzungen, welche dem Minimalismus als bewusster Lebenstechnik zugrunde liegen.

Dr. habil. Thomas Rolf (geb. 1967) studierte von 1986 bis 1993 Philosophie und Germanistik an der Universität Münster. Von 1993 bis 2010 forschte und lehrte er an der TU Chemnitz im Fachgebiet Philosophie; hier erfolgten auch seine Promotion (1997) und Habilitation (2004). Seine philosophischen Schwerpunkte liegen in den Bereichen Phänomenologie, Philosophische Anthropologie und Lebensphilosophie. Buchpublikationen: Normalität. Ein philosophischer Grundbegriff des 20. Jahrhunderts (1999), Erlebnis und Repräsentation. Eine anthropologische Untersuchung (2004), Wahrheit. Ein philosophischer Essay (2017). Seit 2011 arbeitet Thomas Rolf als Lehrbeauftragter für Philosophie an den Universitäten Marburg und Mainz sowie als Dozent in Einrichtungen für Erwachsenenbildung und politische Bildung.


Prof. Dr. Thomas Junker
Biologiehistoriker, Sachbuchautor, Publizist, Frankfurt a. Main · Apl. Professor, Fakultät für Biologie, Eberhard Karls Universität Tübingen
Warum lieben und begehren wir?
Die evolutionsbiologischen Grundlagen der Liebe

Dienstag · 28. November 2023 · 18:15 Uhr · N 1 (Muschel)
Vortragsaufzeichnung

Die romantische Liebe ist einer der großen Mythen unserer Zeit. Sie wird verehrt und verdammt, sie kann quälende Eifersucht und tiefste Verzweiflung, aber auch höchstes Glück bedeuten, Freundschaften zerstören und moralische Systeme hinwegfegen. Woher kommt die Macht der Sexualität und der Liebe?
Im Vortrag werde ich berichten, wie sich das Liebesleben der Menschen und ihre sexuellen Vorlieben aus biologischer Sicht verstehen lassen. Warum verlieben wir uns? Warum haben wir sehr viel häufiger und sehr viel spielerischer Sex, als es zur Fortpflanzung nötig ist? Und was lässt sich zur Vielfalt der Beziehungsformen sagen? Vielleicht ist die Zweierbeziehung ja wirklich die beste Form menschlichen Zusammenlebens – vielleicht aber auch nicht. Einigermaßen sicher wird man das erst beantworten können, wenn man sie möglichst unvoreingenommen mit konkurrierenden Modellen – dem Singleleben, der Polygamie, der Polyamorie und anderen – verglichen hat.
Abschließend werde ich auf die Frage eingehen, ob wir frei entscheiden können, wann, wie und wen wir begehren. Oder ob Liebe, Sexualität und Begehren letztlich von unserem Körper, d.h. von unserer Biologie, bestimmt werden.

Thomas Junker: Studium der Pharmazie an der Universität Freiburg und Promotion in Geschichte der Naturwissenschaften an der Universität Marburg. 1992–95 Associate Editor im Charles Darwin Correspondence Project (Cambridge, England) und Post-doc bei Ernst Mayr am Department of the History of Science der Harvard University (Cambridge, Mass.). 1996–2002 Forschung und Lehre zur Geschichte und Theorie der Biologie am Lehrstuhl für Ethik in der Biologie, Universität Tübingen; 2003 Habilitation für Geschichte der Naturwissenschaften; 2006 Heyne-Haus-Gastprofessor am Institut für Wissenschaftsgeschichte der Universität Göttingen; von 2006 bis 2022 apl. Professor an der Fakultät für Biologie der Universität Tübingen. Publikationen (Auswahl): Die Evolution der Phantasie: Wie der Mensch zum Künstler wurde (Stuttgart: S. Hirzel, 2013). Die verborgene Natur der Liebe: Sex und Leidenschaft und wie wir die Richtigen finden (München: C. H. Beck, 2016). Die Evolution des Menschen (München: C. H. Beck, 4. Aufl., 2021).


Prof. Dr. Jana Strahler
Leiterin Lehrstuhl Sportpsychologie, Institut für Sport und Sportwissenschaft, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Gesund oder schon pathologisch?
Motive und Krankheits­relevanz des orthorektischen Essverhaltens

Dienstag · 5. Dezember 2023 · 18:15 Uhr · online (!)
Vortragsaufzeichnung

In der Wertehierarchie rangiert Gesundheit in allen sozialen Schichten noch vor Einkommen und Familie als wichtigster Lebensbereich. Die Forschung zeigt, dass eine gesunde Ernährung positiv mit einer höheren Lebenserwartung und einer geringeren Wahrscheinlichkeit, chronische Krankheiten zu entwickeln, verbunden ist. Doch was passiert, wenn gesunde Ernährung auf die Spitze getrieben wird? Wann wird ein Verhalten, das sich scheinbar positiv auf die Gesundheit auswirkt, ungesund und nimmt pathologische Züge an? Kann eine übermäßige Fixierung auf gesundes Essen krankhaft sein? Dieses Phänomen fand unter dem Begriff Orthorexia nervosa (griechisch orthós = richtig, órexis = Appetit) Eingang in die Literatur, um damit eine krankhafte Fixierung auf gesundes Essen zu beschreiben. Signifikante Prävalenzraten einer starken Fixierung auf gesundes Essen, manchmal als Healthy Orthorexia bezeichnet, und seiner extremen Form, der Orthorexia nervosa, der pathologischen Besessenheit von gesundem Essen, haben zu verstärkten Bemühungen geführt, die klinische Relevanz dieses Phänomens zu verstehen. Dieser Beitrag fasst das vorhandene Wissen über die (Psycho-)Pathologie und die Folgen von Orthorexia nervosa qualitativ zusammen. Lücken in unserem gegenwärtigen Verständnis von Orthorexia nervosa als (ausgeprägte) psychische Erkrankung werden aufgezeigt. Ein besonderer Schwerpunkt wird dabei auf Motive gelegt, da das Verständnis der zugrunde liegenden Motive die Unterscheidung zwischen „gesunder“ und „ungesunder“ Beschäftigung mit Ernährung ermöglicht.

Prof., Dr. rer.nat., habil., Dipl.-Psych. Jana Strahler: Jana Strahler studierte von 2001 bis 2006 an der Technischen Universität Dresden Psychologie. Sie promovierte 2010 zum Dr. rer. nat. im Fach Psychologie an der TU Dresden und wechselte 2011 an die Philipps-Universität Marburg. Nach einem Gastforschungsaufenthalt an den Centers for Disease Control and Prevention in Atlanta wechselte sie 2016 an die Justus-Liebig-Universität Gießen, an welcher sie sich 2020 mit der venia legendi für Psychologie habilitierte. Nach einer Vertretungsprofessur an der Bergischen Universität Wuppertal (2019) leitet sie seit Juli 2021 den Lehrstuhl Sportpsychologie an der Universität Freiburg. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich vor allem mit den biopsychosozialen (einschließlich genetischen) Wirkmechanismen von Stress, Resilienz und gesundheitsrelevantem Verhalten. Forschungsthemen sind körperlich-sportliche Aktivität als Stresspuffer, Ernährungsverhalten und Gesundheit, Stress und neurophysiologisch und behaviorale Korrelate der Verarbeitung emotionaler Reize, Orthorexie und Sportsucht. Seit 2017 ist sie zertifizierte Klettertherapeutin. Jana Strahler arbeitet seit 2019 im Vorstand der Fachgruppe Gesundheitspsychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie und ist seit 2020 im Präsidium der Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie (asp).


Prof. Dr. Constantin Klein
Professor für Praktische Theologie und Generationenbeziehungen, Evangelische Hochschule Dresden
Spiritualität: Menschliches Grundbedürfnis, gemeinsamer Kern aller Religionen –
oder inhaltsleerer Modebegriff?

Dienstag · 12. Dezember 2023 · 18:15 Uhr · N 1 (Muschel)
Vortragsaufzeichnung

Was unter Spiritualität zu verstehen ist und welche Rolle sie für Menschen spielt, wird höchst unterschiedlich beurteilt: In der Theologie zunächst als binnenchristliches, in den Religionswissenschaften als binnenreligiöses Phänomen betrachtet, hat sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts auch das Verständnis einer anthropologischen Spiritualität ausgebildet, durch das die Frage, ob der Mensch naturgemäß religiös sei, heute unter neuer Begriffsprägung verhandelt wird. In den Sozialwissenschaften wird Spiritualität demgegenüber häufig als Erscheinungsform religiöser Individualisierung betrachtet, wobei die Beurteilung von der Prognose einer "spirituellen Revolution" über die Beschreibung einer individualistischen "Verflüchtigung des Religiösen ins Spirituelle" bis hin zur Bewertung als marginales und temporäres Phänomen reicht, das im Wesentlichen während der Esoterikwelle in den 1980er/1990er Jahren Zuspruch fand. Obschon sich Umfragen zufolge zwischen 35 und 70 Prozent der Deutschen als "nicht spirituell" einschätzen, wird Spiritualität (bewusst losgelöst von Religion) in Gesundheitsfächern wie Medizin und Psychologie teils ebenfalls allen Menschen zugeschrieben – weil sie, insbesondere in Fachrichtungen wie Palliativmedizin, Psychoonkologie oder Psychotherapie, als Ressource für Wohlbefinden und Selbstentfaltung geschätzt wird; auch und gerade in der Konfrontation mit schweren, lebensbedrohlichen Erkrankungen. Wie sich Spiritualität im Spiegel empirischer Forschung inhaltlich charakterisieren lässt und welche psychosozialen Funktionen tatsächlich mit ihr verbunden sind, soll im Rahmen der Vorlesung näher beleuchtet werden.

Constantin Klein ist Professor für Praktische Theologie an der Ev. Hochschule Dresden. Nach seinem Studium der Psychologie (Diplom 2003) und ev. Theologie (Diplom 2004) hat er im Schnittfeld von Theologie, Psychologie und Medizin u.a. im Bereich der Persönlichkeits- (Universität Leipzig) und Medizinischen Psychologie (Universitätsklinikum Dresden), der Kirchengeschichte (Universität Bonn), der Religionspädagogik sowie der Religions- und Gesundheitswissenschaft (Universität Bielefeld) und der Palliativmedizin (Universitätsklinikum München) an verschiedenen Universitäten geforscht und unterrichtet. 2013 wurde er an der Universität Bielefeld im Fach Theologie promoviert. Von 2017 bis 2020 war er Inhaber der Stiftungsprofessur für Spiritual Care am Universitätsklinikum München. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die historische und biographische Entwicklung von Religiosität, die Entwicklung und Verbesserung von Methoden der empirischen Religionsforschung sowie die Erforschung von Religiosität und Spiritualität in der Gegenwart, insbesondere der Rolle der Religiosität bei der Einstellungsbildung, des Verhältnisses von Religiosität und Geschlecht und des Verhältnisses von Religiosität zu körperlicher und psychischer Gesundheit.


Prof. Dr. Johannes Kopp
Professor für Soziologie, Empirische Sozialforschung & Metho­denlehre, Abteilung für Soziologie/Ethnologie, Universität Trier
Partnerschaftliche und familiale Lebensformen.
Im Westen (und im Osten) nichts Neues?

Dienstag · 16. Januar 2024 · 18:15 Uhr · N 1 (Muschel)
Vortragsaufzeichnung

In der öffentlichen Diskussion finden sich im Zusammenhang mit Partnerschaft und Familie immer wieder Analysen, die von einem grundlegenden Wandel und der Entstehung neuer oder vermeintlich neuer Lebens- und Organisationsformen sprechen. Anhand unterschiedlichster partnerschaftlicher und familialer Prozesse – beginnend mit dem Prozess der Bildung und Verfestigung von Partnerschaften über die Frage der Familienerweiterung durch die Geburt von Kindern und die Gestaltung der alltäglichen Interaktion innerhalb von Partnerschaften und Familien bis hin zu Fragen der Stabilität sozialer Beziehungen und der Gestaltung von intergenerationalen Beziehungen – soll in diesem Vortrag untersucht werden, ob diese Diagnosen tragfähig sind oder ob die Diagnose nicht häufig lauten müsste: "Im Westen (und Osten) nichts Neues". Grundlage der Analysen sind vielfältige Forschungsprojekte und empirische Analysen unterschiedlichster Datenbestände.

Prof. Dr. Johannes Kopp: Geboren 1961 in Säckingen, studierte Soziologie an der Universität Mannheim, arbeitete seit 1988 unter anderem an den Universitäten zu Köln und in Mannheim. Im Jahr 2004 erhielt er einen Ruf an die TU Chemnitz. Seit 2013 ist er Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt empirische Sozialforschung an der Universität Trier. Seine Forschungsgebiete sind sehr vielfältig und berühren sowohl die Methodenforschung, die Gemeindesoziologie sowie vor allem Familiensoziologie. In diesen Zusammenhängen arbeitet er zu den Themen Fertilitätsverhalten, Institutionalisierung von Partnerschaften, Entwicklung intergenerationaler Beziehungen bis hin zu ehelichen Routinen, Konflikten und Scheidungen. Aktuell leitet Herr Kopp an der Universität Trier zwei Projekte zur Zeitverwendung von Partnerschaften sowie zur Mikrosimulation von Prozessen im Rahmen der Familie und der Gesundheit. Zu seinen Buchveröffentlichungen gehören – meist in Zusammenarbeit mit Kollegen – Lehrbücher zur Familien- sowie zur Bildungssoziologie, die Herausgabe des Handbuchs für Familienforschung sowie der Grundbegriffe der Soziologie. In den letzten Jahren erschienen mehrere Studien zur Stadt- und Regionalforschung sowie zur Heavy-Metal-Szene.


Prof. Dr. Arndt Büssing
Professor für Lebensqualität, Spiritualität und Coping, Fakultät für Gesundheit, Universität Witten/Herdecke
"Eat, Pray, Love?" –
Welche existenziellen und spirituellen Bedürfnisse haben chronisch kranke und belastete Menschen?

Dienstag · 23. Januar 2024 · 18:15 Uhr · N 1 (Muschel)
Vortragsaufzeichnung

Spiritual Care hat sich auch im deutschen Sprachraum als Bezeichnung für die gemeinsame Sorge aller Gesundheitsberufe um existentielle und spirituelle Ressourcen, Bedürfnisse und Probleme kranker Menschen eingebürgert. Während die Unterstützung dieser Bedürfnisse in der palliativen Versorgung gut etabliert ist, wird ihre Bedeutung in den frühen Phasen chronischer Krankheit jedoch weitgehend ignoriert, und die Patientinnen und Patienten werden mit ihren Bedürfnissen weitgehend allein gelassen. Seitens des medizinischen Personals wird hier zumeist keine Zuständigkeit gesehen und diese der Seelsorge zugeschrieben. Um Spiritual Care kompetent und verlässlich interdisziplinär zur Anwendung zu bringen, müssen entsprechende Bedürfnisse jedoch erfasst und dokumentiert werden, um als Team auf diese eingehen zu können. Die Messbarkeit dieser Bedürfnisse, ihre unterschiedliche Ausprägung in verschiedenen Personengruppen und ihre Zusammenhänge mit Indikatoren der Lebensqualität werden anhand empirischer Daten vorgestellt. – Für ein Gesundheitssystem, das einen umfassenden Versorgungsauftrag (trotz aller ökonomischer Belastungen) ernst nimmt, sollte die Berücksichtigung existenzieller/spiritueller Bedürfnisse nicht nur optional, sondern unabdingbar sein.

Arndt Büssing ist Professor für Lebensqualität, Spiritualität und Coping an der Universität Witten/Herdecke und war von 2017–2023 als Forschungsprofessor bei IUNCTUS – Kompetenzzentrum für christliche Spiritualität an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Münster assoziiert. Sein Forschungsinteresse richtet sich auf die Bedeutung der Spiritualität als Ressource sowie die Unterstützung spiritueller Bedürfnisse bei Menschen in Belastungssituationen. Er ist im Editorial Board der Fachzeitschriften Spiritual Care, Journal of Religion & Health und Journal for the Study of Spirituality, sowie Co-Editor-in-Chief des Journals Religions.


Prof. Dr. Gunther Hirschfelder
Professor für Vergleichende Kulturwissenschaft, Fakultät für Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften, Universität Regensburg
Tier, Fleisch und Mensch im 21. Jahrhundert –
Perspektiven auf ein schwieriges Kräftedreieck

Dienstag · 30. Januar 2024 · 18:15 Uhr · N 1 (Muschel)
Vortragsaufzeichnung

Tierproduktion und Fleischkonsum sehen sich heute erbitterter gesellschaftlicher Kritik ausgesetzt. Medien und institutionelle Ernährungsbildung warnen vor Fleischkonsum, aber der Konsum geht trotzdem nur allmählich zurück. Woran liegt das? Die Gründe liegen einmal in der soziokulturellen Bedingtheit der Esskultur, vor allem auch in der historischen Genese des Konsums: Tierische Nahrungsmittel waren nämlich von Beginn der Menschheit an Garanten für Überleben und Achillesversen der Ernährung. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde Fleisch für immer mehr Menschen verfügbar. Aber wie kann und wird sich diese Entwicklung in der Zukunft fortsetzen? Wie viel Fleischkonsum verträgt die Welt? Und haben Fleischersatzprodukte und fleischlose Ernährungsstile in Zukunft eine Chance?

Gunther Hirschfelder beschäftigt sich seit der Jugend mit der Ernährung. Er studierte Geschichte, Volkskunde und Agrarwissenschaft in Bonn und wurde 1992 mit einer Arbeit über die Kölner Handelsbeziehungen im Spätmittelalter – auch da spielten Lebensmittel eine zentrale Rolle – an der Universität Trier promoviert. Nach einem Forschungsaufenthalt in Manchester folgten Assistentenjahre an der Universität Bonn und 2000 die Habilitation über den Alkoholkonsum an der Schwelle zum Industriezeitalter. Nach Vertretungsprofessuren in Mainz und Bonn ist er seit 2010 Professor für Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg. Von dort aus forscht er über die Strukturen der Ernährung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Auch in seinem breiten journalistischen und publizistischen Wirken geht es um die Ernährung.


Prof. Dr. Eva Barlösius
Professorin für Makrosoziologie und Sozialstrukturanalyse, Institut für Soziologie, Leibniz Universität Hannover
Der Zauber des Essens
Dienstag · 6. Februar 2024 · 18:15 Uhr · N 1 (Muschel)

An den Vortrag schließt sich anlässlich des 75-jährigen Bestehens des Studium generale ein Empfang im Foyer der Muschel an.

Aufzeichnung der Veranstaltung (mit Grußwort des Präsidenten der JGU; Prof. Dr. Georg Krausch, und Ansprache des Leiters des Studium generale, Prof. Dr. Cornelis Menke)

Nahrung ist der Anfang von allem. Menschen müssen sich ernähren und das Nahrungsbedürfnis ist das Erste, was in jedem individuellen Leben zu stillen ist. Auch in der Geschichte der Menschheit war es am dringlichsten, sich um ausreichende Nahrung zu kümmern. Das Nahrungsbedürfnis gilt deshalb als Ursache stetigen Arbeitens und als Ursprung allen Wirtschaftens. All dies und noch viel mehr gehört zu den Notwendigkeiten der Ernährung. Sie waren der Grund dafür, dass mit dem Essen soziale Grundformen entwickelt wurden wie gemeinsam geteilte soziale und kulturelle Bedeutungen, ethische und soziale Regeln und die beinahe überall ähnlich funktionierende soziale Institution der Mahlzeit. Diese sozialen Grundformen haben selbst dort, wo die Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses gesichert und nicht mehr gesellschaftsprägend ist, nicht ihre Geltung und Funktion eingebüßt, denn die gesellschaftliche Bedeutung des Essens hat keineswegs abgenommen. Dieses Phänomen bezeichne ich als den Zauber des Essens.

Prof. Dr. Eva Barlösius, geboren 1959 in Hannover, hat seit 2007 die Professur für Makrosoziologie und Sozialstrukturanalyse an der Leibniz Universität Hannover (LUH) inne. Davor war sie als Professorin an der Universität Hohenheim und der Universität Duisburg-Essen tätig. Im Jahr 2016 hat sie an der LUH das Leibniz Center for Science and Society (LCSS) gegründet und ist dort seit 2019 Sprecherin des Forums Wissenschaftsreflexion. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Soziologie des Essens, Ungleichheits- und Armutsforschung und die Wissenschaftsforschung. Zu ihren Buchveröffentlichungen gehören: Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung, 2016; Dicksein. Wenn der Körper das Verhältnis zur Gesellschaft bestimmt, 2014; Infrastrukturen als soziale Ordnungsdienste. Ein Beitrag zur Gesellschaftsdiagnose, 2019; Die sozialisierte Universität, 2024.


 

Öffentliche Vorlesungsreihe:
Die Vorlesungsreihe "Eat, Pray, Love? Grundbedürfnisse des Menschen" ist öffentlich und richtet sich an alle Interessierten. Die Vorträge finden in der Regel als Präsenzveranstaltungen im Hörsaal N 1 in der "Muschel", Johann Joachim-Becher-Weg 23, statt.

Aufzeichnung:
Die Beiträge werden (vorbehaltlich der Zustimmung der Vortragenden) auch aufgezeichnet und sollen allen Interessierten auch nachträglich zugänglich sein. Einen Livestream gibt es bei den Präsenzveranstaltungen nicht. Die Links zu den Aufzeichnungen werden in der Regel einen Tag nach der Veranstaltung auf dieser Seite veröffentlicht.
Ausnahme: Die Veranstaltung am 05.12.2023 findet rein online statt. Dieser Vortrag wird live gestreamt und auch aufgezeichnet.

Einfahrt auf den Campus:
Für Gäste gibt es ein Freikontingent von 30 Stunden pro Jahr für die Einfahrt mit dem PKW auf den Campus. Anhand der Kennzeichenerkennung bei Ein- und Ausfahrt wird die Verweildauer auf dem Campus automatisch ermittelt und abgerechnet. Mehr erfahren

Bildnachweis:
Collage Eat, Pray, Love: Image of a Buddha statue (Ausschnitt), generiert mit KI. SardarMuhammad, stock.adobe.com; Turkish breakfast (Ausschnitt). Sonyakamoz, stock.adobe.com, Multiethnic couple (Ausschnitt). Mavoimages, stock.adobe.com