Dickel, Prof. Dr. Sascha – Vortragsexposé – Sommersemester 2022

Themenschwerpunkt des Studium generale
Mündigkeit 4.0 – Ethik in der datafizierten Welt

Prof. Dr. Sascha Dickel

Professor für Mediensoziologie und Gesellschaftstheorie, Arbeitsbereich Mediensoziologie und Gesellschaftstheorie, Institut für Soziologie, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

#Selberdenken. Epistemische Autonomie als problematisches Ideal digitaler Öffentlichkeit

Donnerstag, 7. Juli 2022, 18:15 Uhr
Aktuelle Informationen zur Veranstaltungsform und weitere Hinweise unter www.studgen.uni-mainz.de

Im Kontext der Covid-19-Pandemie wird der Hashtag #selberdenken in sozialen Medien insbesondere von Accounts verwendet, welche die etablierte Deutung der Erkrankung und/oder der zu ihrer Bekämpfung ergriffenen Maßnahmen in Zweifel ziehen. Der affirmative Gebrauch des Hashtags #selberdenken demonstriert sowohl eine kommunikative Beanspruchung individueller epistemischer Autonomie als auch eine Aufforderung an andere, sich ihres Verstandes zu bedienen und dadurch eben jene Autonomie ebenfalls zu erlangen.
Dabei steht der epistemische Anspruch, der im #selberdenken verkörpert wird, in einem ambivalenten Verhältnis zur Wissensordnung moderner Gesellschaften. Zum einen werden die Institutionen kritisiert, die in der Moderne hinsichtlich der Produktion und Anwendung von Wissen Deutungs- und Zuständigkeitsmonopole erlangt haben. Zum anderen beruft sich diese Kritik auf das moderne Leitmotiv der Aufklärung, sich seines eigenen Verstandes ohne Anleitung anderer zu bedienen und dies im öffentlichen Diskurs gegenüber einem Publikum zu vertreten. Als epistemische Ressourcen dienen den ′Selberdenker:innen′ dabei alternative Interpretationen öffentlicher Daten, die Berufung auf heterodoxe epistemische Autoritäten sowie die Evidenz des Erfahrungswissens.
Der Vortrag diskutiert anhand ausgewählter Tweets, wie der Kommunikationsstil von ′Selberdenker:innen′ aussieht und warum Appelle an individuelles Selberdenken die institutionellen Regeln wissenschaftlicher Diskurse verkennen. Der Fall demonstriert so zugleich die Möglichkeiten und Grenzen einer ″Mündigkeit 4.0″ in sozialen Medien.

Prof. Dr. Sascha Dickel hat Politikwissenschaft und Soziologie in Marburg und Frankfurt am Main studiert. Seine Promotion in Soziologie erfolgte an der Universität Bielefeld. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter war er unter anderem am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung Berlin und an der TU München tätig. 2017–2021 war er Juniorprofessor für Mediensoziologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seit 2021 ist er hier als Universitätsprofessor für Mediensoziologie und Gesellschaftstheorie tätig. Seine Arbeitsgebiete sind digitale Kommunikation, Wissenschaft und Öffentlichkeit sowie gesellschaftliche Zukunftsdiskurse.

Ausgewählte Veröffentlichungen:
Dickel, Sascha (2019): Prototyping Society. Zur vorauseilenden Technologisierung der Zukunft. Bielefeld: transcript.
Block, Katharina; Dickel, Sascha (2020): Jenseits der Autonomie. Die De/Problematisierung des Subjekts in Zeiten der Digitalisierung, Behemoth, 13 (1), 109–131.
Wenninger, Andreas; Dickel, Sascha (2019): Paradoxien digital-partizipativer Wissenschaft. Zur sozioepistemischen Grenzarbeit in Citizen Science und Wissenschaftsblogs, Österreichische Zeitschrift für
Soziologie 44 (Suppl 1), 257–286.