Öffentliche Vorlesungsreihe – Wintersemester 2024/2025

 
Interdisziplinäre Vorlesungsreihe

Die Macht von Überzeugungen. Weltanschauungen, Ideologien, Glaubenssysteme

Menschen haben Überzeugungen, die sie leiten und aus denen heraus sie handeln. Diese Fähigkeit wird nicht selten als spezifisch menschliche ausgezeichnet – zeigt sie doch, wie der Mensch seine Welt symbolisch und kulturell erschließt und sich in ihr zurechtfindet. Die besondere Motivation, die aus solchen Überzeugungen erwächst, ist dabei ebenso interessant wie die Tatsache, dass wir sie auch mitteilen, gemeinsam vertreten oder kontrovers diskutieren können.

Zu einem Ganzen der Weltdeutung verbunden, bilden sich anhand von Überzeugungen Gemeinschaften und Glaubenssysteme unterschiedlicher Kohärenz und (Ab-)Geschlossenheit. Sie werden in kultureller oder religiöser Hinsicht häufig als Weltanschauungen, in politischer Hinsicht als Ideologien bezeichnet. In übersteigerter Form können sie Konflikte antreiben und – etwa als Verschwörungsmythen – auch im Gegensatz zu Common Sense und Wissenschaft stehen.

Wie wirken Überzeugungen sich auf kulturelle Traditionen, alltägliches Handeln oder politische Einstellungen aus? Was unterscheidet den Glauben an geschlossene Systeme von Überzeugungen, die wir akzeptabel oder rational finden wie z.B. die "wissenschaftliche Weltanschauung"? Wie geht eine offene Gesellschaft mit den festen Überzeugungen von Menschen um, selbst wenn sie diese nicht teilt?

Diese Fragen und weitere Aspekte wie Deutungsmachtkonflikte, Verschwörungsmentalitäten und Weltanschauungsfreiheit werden in der interdisziplinären Vorlesungsreihe mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern u.a. aus Philosophie, Psychologie und Soziologie, Religions-, Politik- und Rechtswissenschaft diskutiert.


Sie können die Termine dieser Vorlesungsreihe als ICS-Kalender-Datei herunterladen.


Konzept und Organisation der Vorlesungsreihe:
Dr. Andreas Hütig und Dr. Edith Struchholz-Andre


Einführungsvideo zur Vorlesungsreihe:

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Prof. Mag. Dr. Dr. Winfried Löffler
Professor am Institut für Christliche Philosophie, Katholisch-Theologische Fakultät, Universität Innsbruck
Weltanschauungen und Resilient Beliefs
Donnerstag · 7. November 2024 · 18:15 Uhr · N 1 (Muschel)

Vortragsaufzeichnung

Das Wort "Weltanschauung" hat in vielen Ohren einen etwas merkwürdigen Klang, u.a. durch den politischen Missbrauch, der zeitweise damit getrieben wurde. Aber de facto hat jeder Mensch eine Weltanschauung – nicht unbedingt im Sinne klarer religiös-politischer Präferenzen, aber doch in Gestalt tiefsitzender Voraussetzungen, die uns meist gar nicht auffallen, aber unser Denken, Handeln und unsere Wirklichkeitsorientierung prägen. Entgegen einer verbreiteten Ansicht sind diese keine reine Frage des Geschmacks, sondern kritischer Diskussion zugänglich – manchmal auch der Revision. Typischerweise sind weltanschauliche Überzeugungen aber resilient, d.h. sie werden deutlich schwerer aufgegeben als andere. Diese Resilienz kann lebensdienlich sein (Orientierungssysteme müssen stabil sein!), es gibt auch Fälle resilienten Festhaltens an seltsamen Meinungen, die zuweilen Weltanschauungscharakter annehmen. Der erste Vortrag dieser Studium-generale-Reihe legt einige begriffliche Klärungsangebote und geht der Frage nach, ob es erkenntnistheoretische Kriterien rationaler und irrationaler Überzeugungsresilienz gibt.

Prof. Mag. Dr. Dr. Winfried Löffler hat Philosophie, Rechtswissenschaften und Theologie studiert und forscht im Grenzgebiet zwischen Logik, Wissenschaftstheorie, Erkenntnistheorie und Religionsphilosophie. Sein Interesse gilt u.a. der Struktur von Weltanschauungen und den Möglichkeiten und Grenzen von Argumenten in diesem Bereich, aber auch den erkenntnistheoretischen Strukturen von Verschwörungstheorien, Fake News und heterodoxen Diskursbereichen. Von 2022–2024 leitete er den Innsbrucker Teil des internationalen Forschungsprojekts Resilient Beliefs: Religion and Beyond. Publikationen zum Thema: Einführung in die Logik (Stuttgart 2008); Einführung in die Religionsphilosophie, 3. Auflage Darmstadt 2019; (Hg.:) Weltanschauung. Konturierungen eines umstrittenen Themas (Innsbruck Studies in Philosophy of Religion 3), Paderborn 2024; Erkenntnistheoretische Strukturen heterodoxer Wissensdiskurse, in: A. Fischer / M. Lessau (Hgg.), Rechtfertigungsspiele. Über das Rechtfertigen und Überzeugen in heterodoxen Wissensdiskursen, Paderborn 2024, 21–49.


Prof. Dr. Markus Appel
Inhaber des Lehrstuhls für Kommunikationspsychologie und Neue Medien, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Geschichten im digitalen Zeitalter:
Zur Rolle von Einstellungen und Überzeugungen aus psychologischer Perspektive

Donnerstag · 14. November 2024 · 18:15 Uhr · N 1 (Muschel)

Vortragsaufzeichnung

Menschen verbringen einen wesentlichen Teil ihrer Zeit mit medial vermittelten Geschichten, wie Romanen, Spielfilmen, Serien auf Netflix oder kurzen TikTok-Clips. Die sozialwissenschaftliche Forschung der letzten Jahre zeigt, dass die Verarbeitung und Wirkung von Geschichten spezifische Merkmale aufweist. Geschichten sind besonders gut dazu geeignet, Aufmerksamkeit zu fesseln, und Rezipient:innen neigen dazu, sich unmittelbar in die erzählte Welt hineinziehen zu lassen. Dieses Eintauchen in narrative Welten beeinflusst wiederum Einstellungen und Überzeugungen im Hier und Jetzt. Ausgehend von Gedanken zur Genese von Überzeugungen im postfaktischen Zeitalter werden Erkenntnisse zum Zusammenspiel zwischen menschlichen Überzeugungen und der Auswahl, Verarbeitung und Wirkung von Geschichten vorgestellt. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf eigenen Arbeiten zum Geschichtenerzählen durch ChatGPT und humanoide Roboter.

Prof. Dr. Markus Appel (geb. 1973) studierte Psychologie und Kulturwissenschaften an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Humboldt-Universität zu Berlin. Nach seiner Promotion an der Universität zu Köln (2004) arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Assistenz- und Assoziierter Professor an der Johannes Kepler Universität Linz, Österreich. Er war im Anschluss als Lehrstuhl¬inhaber für Medienpsychologie an der Universität Koblenz-Landau tätig und wechselte 2017 auf seine aktuelle Position in Würzburg. Gastaufenthalte führten ihn u.a. an die New York University und die UNSW Sydney. Schwerpunkt seiner Forschungen ist das menschliche Erleben und Verhalten im Umgang mit neuen technologischen Entwicklungen. Unter anderem ist im Dezember 2023 ein von ihm und Mitarbeiter:innen herausgegebenes Einführungswerk zu dem Themengebiet erschienen: Digital ist besser?! Die Psychologie der Online- und Mobilkommunikation.


Prof. Dr. Christoph Henning
Chair holder, Professor of Philosophy and Humanism, University of Humanistic Studies, Utrecht
Ideologische Mechanismen.
Über die Materialität von Ideologien

Donnerstag · 21. November 2024 · 18:15 Uhr · N 1 (Muschel)

Vortragsaufzeichnung

Ideologiekritik lässt sich nur betreiben, wenn man die Kriterien der eigenen Wahrheitsansprüche ausweisen kann – andernfalls wird der Ideologiebegriff beliebig (und tatsächlich verwenden ihn inzwischen auch Populisten für all das, was ihnen nicht passt, etwa die "Klima-Ideologie"). Aber die Orientierung an Wahrheit kann in eine Denkfalle führen: Heißt das, dass alle Anhänger einer Ideologie nur einem Irrtum aufsitzen, und damit schlicht ‚falsch‘ denken? Damit würde der gesellschaftliche Charakter von Ideologien verfehlt, die Sache wird individualisiert und psychologisiert – so als würde einmal richtig nachdenken dagegen helfen. Demgegenüber verweist die klassische Ideologiekritik auf zweierlei: Erstens sind es nicht irgendwelche Denkfehler, sondern teils sorgfältig eingefädelte und institutionell abgestützte Erzählungen, denen Individuen auf machtvolle Weise ausgesetzt sind – der Fehler liegt also nicht (nur) bei ihnen, wenn sie übernehmen, was ihnen täglich machtvoll als Weltdeutung dargeboten wird. Die Kritik muss sich also weniger gegen die Individuen, sondern mehr gegen die Produzenten der Verdrehung richten. Und zweitens arbeiten solche Umdeutungsindustrien keineswegs nur auf kognitive Weise, sondern erstreben auch einen Zugriff auf unsere Routinen, die habituellen Selbstverständlichkeiten – dadurch, dass sich Ideologien auch in unserer materiellen Alltagsstruktur festschreiben, etwa durch Architektur oder Verkehrsplanung. Damit werden Ideologien quasi ‚eingeleibt‘ und emotional besetzt, ihnen ist durch Argumente teils nur noch schwer beizukommen. Beide Elemente will ich am drastischen Beispiel des Auto-Fetisches einmal im Detail durchspielen.

Prof. Dr. Christoph Henning ist ordentlicher Professor für Philosophie in Utrecht (Niederlande) und leitet dort die Forschungsgruppe "Humanismus und Philosophie". Von 2014 bis 2023 war er Fellow für Philosophie am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt. Er ist ein Experte für Kritische Theorie und politische Philosophie. Einige seiner Bücher: Philosophy after Marx (Brill, 2014), Theories of Alienation from Rousseau to the Present (Routledge, 2024), Critical Theory & New Materialisms (mit Hartmut Rosa & Arthur Bueno, Hrsg., Routledge 2021) oder The Good life beyond Growth: new perspectives (mit Hartmut Rosa, Hrsg., Routledge 2017).


Prof. Dr. Philipp Sterzer
Professor für Translationale Psychiatrie, Chefarzt, Zentrum für Diagnostik und Krisenintervention, Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Entstehung und Irrationalität von Überzeugungen:
Eine neurowissenschaftliche Perspektive

Donnerstag · 5. Dezember 2024 · 18:15 Uhr · N 1 (Muschel)

Vortragsaufzeichnung
(Aus rechtlichen Gründen kann der Zugriff nur Angehörigen der JGU Mainz ermöglicht werden.)

Verschwörungsglaube, Klimaskepsis, alternative Fakten – wie kann es sein, dass manche Menschen felsenfest von Dingen überzeugt sind, die angesichts der Datenlage eindeutig falsch erscheinen? Sind diese Menschen einfach schlecht informiert? Wollen sie es nicht besser wissen? Oder sind sie möglicherweise sogar verrückt? Bei der Frage, ob unsere Überzeugungen mit der Realität übereinstimmen, also im epistemischen Sinne rational sind, wiegen wir uns in falscher Sicherheit. Selbst in Situationen, in denen die verfügbaren Daten unsicher und zweideutig sind, erscheint uns das Bild der Welt, das unser Gehirn uns liefert, meist als klar, eindeutig und richtig. Der Vortrag von Philipp Sterzer gibt Einblicke in aktuelle neurowissenschaftliche Theorien und Befunde, die uns verstehen helfen, wie das Bild der Welt in unseren Köpfen entsteht – und warum dieses Bild mal mehr und mal weniger mit der Realität im Einklang steht. Nach neurowissenschaftlichem Verständnis können sowohl unsere Wahrnehmungen als auch unsere abstrakten Überzeugungen immer nur Hypothesen sein. Aber Hypothesen, so sicher wir uns ihrer auch sein mögen, sind ihrem Wesen nach immer potentiell falsifizierbar. Diese neurowissenschaftliche Perspektive kann eine Grundlage für einen bewusst rationalen Umgang mit unserer Irrationalität bilden. Die Hoffnung ist, dass uns dies einen selbstkritisch-reflektierenden Blick auf unsere eigenen festgefahrenen Überzeugungen und eine tolerantere Haltung gegenüber den Überzeugungen anderer ermöglicht.

Philipp Sterzer studierte Medizin in München und Harvard. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München machte er zunächst eine Ausbildung zum Neurologen an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine wissenschaftliche Tätigkeit zum Thema Wahrnehmung und Bewusstsein führte ihn über das University College London an die Berliner Charité. Nach der zusätzlichen Ausbildung zum Psychiater und Psychotherapeuten wurde er dort 2011 zum Professor für Psychiatrie und computationale Neurowissenschaften berufen. Seit 2022 ist er Chefarzt und Professor für Translationale Psychiatrie an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Untersuchung der neuronalen Grundlagen von Wahn und Halluzinationen. Neben zahlreichen Publikationen in Fachzeitschriften hat er das Kindersachbuch "29 Fenster zum Gehirn" (Arena) und zuletzt das populärwissenschaftliche Buch "Die Illusion der Vernunft" (Ullstein) veröffentlicht.


Prof. Dr. Dr. h. c. Heiner Bielefeldt
Inhaber des Lehrstuhls für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik, Institut für Politische Wissenschaft, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Ein umkämpftes Menschenrecht:
Die Religions- und Weltanschauungsfreiheit

Donnerstag · 12. Dezember 2024 · 18:15 Uhr · N 1 (Muschel)

Vortragsaufzeichnung

Menschenrechte mussten und müssen gegen politische Widerstände erkämpft werden. Für die Religionsfreiheit, die auch die Freiheit nicht-religiöser Weltanschauungen umfasst, gilt dies derzeit in besonderem Maße. Dies zeigt sich nicht nur in zahlreichen Verletzungen der Religionsfreiheit, sondern auch in Versuchen, sie ins Antiliberale zu verdrehen und gegen andere Menschenrechte aggressiv auszuspielen. Verletzungen der Religionsfreiheit finden in allen Kontinenten statt. Sie reichen von Schmutzkampagnen oder bürokratischen Schikanen bis zu Vertreibungen und genozidaler Gewalt. Die Motive sind vielfältig. Staaten verstehen sich als Hüter religiöser Wahrheits- oder Reinheitsvorstellungen, beschwören ein nationales religiöses Erbe oder fürchten die "subversive" Kraft staatsunabhängiger Gemeindepraxis. Missbraucht wird die Religionsfreiheit aber auch dann, wenn politische Akteure sie aus dem Gesamt der Menschenrechte herausbrechen und zu einem Bollwerk des Antiliberalismus aufbauen wollen. Beispielsweise wird eine ideologisch verdrehte "Religionsfreiheit" (hier bewusst in Anführungszeichen gesetzt) systematisch gegen Ansprüche der Geschlechtergerechtigkeit ausgespielt. Gegen solche Projekte den freiheitlichen Charakter der Religionsfreiheit herauszustellen, ist daher keineswegs trivial. Der Vortrag gibt einen Überblick sowohl über konkrete Verletzungen als auch über Versuche antiliberaler Umdeutung der Religionsfreiheit und spricht konkrete Handlungsoptionen an.

Prof. Dr. Dr. h.c. Heiner Bielefeldt ist seit Oktober diesen Jahres Seniorprofessor für Menschenrechte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Zwischen 2003 und 2009 leitete er das auf Beschluss des Deutschen Bundestags eingerichtete Deutsche Institut für Menschenrechte in Berlin. Von 2010 bis 2016 hatte er das weltweite Mandat des UN-Sonderberichterstatters für Religionsfreiheit inne. In diesem Zusammenhang nahm er nicht nur an den Debatten der UNO teil, sondern führte auch Fact-Finding-Missionen in verschiedenen Teilen der Welt durch. Zu menschenrechtlichen Themen hat Heiner Bielefeldt zahlreiche Publikationen verfasst. Darunter finden sich auch Bücher spezifisch zur Religionsfreiheit, z.B.: "Freedom of Religion or Belief. An International Law Commentary", Oxford University Press 2016, zusammen mit Nazila Ghanea und Michael Wiener; "Religionsfreiheit auf dem Prüfstand. Konturen eines umkämpften Menschenrechts", transcript-Verlag 2020, zusammen mit Michael Wiener.


Prof. Dr. Annette Schnabel
Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie I, Institut für Sozial­wissenschaften, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Die veränderte Rolle von Religion in Deutschland
Donnerstag · 9. Januar 2025 · 18:15 Uhr · N 1 (Muschel)

Vortragsaufzeichnung

Derzeit ist die Kirchenbindung an die beiden Volkskirchen in Deutschland auf einem historisch niedrigen Stand. Ein genauerer – empirischer – Blick auf die religiöse Landschaft Deutschlands zeigt jedoch, dass eine Abnahme der individuellen Bindung an die beiden Volkskirchen nicht einfach gleichgesetzt werden kann mit einem Rückgang individueller Religiosität. Zwar nimmt der Anteil derjenigen, die sich keiner Religionsgemeinschaft zugehörig fühlen, kontinuierlich zu, doch bedeutet dies nicht, dass hiermit automatisch Religion und Religiosität aus der deutschen Gesellschaft verschwänden. Neben der individuellen religionsgemeinschaftlichen Bindung spielen religiöse Praktiken und Glaubensvorstellungen und Identitäten eine wichtige Rolle. So gehören nicht-religiöse und religiöse Lebensweisen gleichermaßen zur gesellschaftlichen Normalität. Dies hat Konsequenzen für das soziale und politische Zusammenleben: Einerseits besteht eine nun gesteigerte Herausforderung darin, dass die in Art. 4 des Grundgesetzes verankerte Glaubens-, Bekenntnis- und Glaubensausübungsfreiheit in einer ideologie-pluralen Gesellschaft von der Bevölkerung auch als Bereicherung und nicht als Bedrohung wahrgenommen werden muss. Andererseits hat der Glaubwürdigkeitsverlust der Volkskirchen Auswirkungen auf die gesamte gesellschaftliche Ordnung – waren die Kirchen doch wichtiges Element der deutschen Nachkriegsordnung. Diese Ordnung sah eine kooperative Verankerung religiöser Perspektiven und Moralvorstellungen im demokratischen Prozess vor und machte die Kirchen zu Ansprechpartnern im politischen und sozialen Dialog. Dieses Arrangement wird nun durch den hohen Anteil an kirchenfernen Religionslosen sowie einer sich verstärkt ausbreitenden Delegitimation der christlichen Kirchen brüchig. Daraus leiten sich Fragen und Herausforderungen im Hinblick auf die institutionelle Struktur der politischen, sozialen und ökonomischen Einbindung von Religion ab. Der Vortrag wird auf der Basis aktueller Daten des Religionsmonitors der Bertelsmann-Stiftung diese Spannungsverhältnisse einer ideologisch-pluralen deutschen Gesellschaft ausleuchten.

Prof. Dr. Annette Schnabel ist seit 2015 Professorin für Soziologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Davor war sie Associate Professor am Department of Sociology der Univerity of Umeå (Schweden) und Professorin für Allgemeine Soziologie an der Bergischen Universität Wuppertal. Ihre Promotion über die Teilnahme an der deutschen Frauenbewegung als rationale Handlungswahl hat sie 2003 an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz abgeschlossen. Aktuelle Arbeitsgebiete: Entstehung und Folgen nationaler und religiöse Identitäten, Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat in Europa, soziale Bewegungen und Feminismus. Publikationen (Auswahl): Religion im Kontext (Hg. mit M. Reddig u. H. Winkel), Baden-Baden 2018. "Religion und ihre Einbettung in Verfassungen als Kontext" (mit L. Hönes), Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik, 5(2) 2021, 313–341. "Religious Cleavages and national Identity in European Societies", in: T. Hjelm (ed.): Is God Back? London, New York 2015, 48–65.


Prof. Dr. Oliver Hidalgo
Inhaber des Lehrstuhls für Politikwissenschaft (Schwerpunkt Politische Theorie), Sozial- und Bildungswissenschaftliche Fakultät, Universität Passau
Negativer Glaube?
Ideologien und Verschwörungstheorien als (Ersatz-)Religionen

Donnerstag · 16. Januar 2025 · 18:15 Uhr · N 1 (Muschel)

Vortragsaufzeichnung

Religionen und Verschwörungstheorien weisen mehrere auffällige Überschneidungen auf: beide sind sie auf eine empirische Belegbarkeit ihrer Glaubenssätze nicht angewiesen, gewähren in Situationen der Unsicherheit und Kontingenz ideologische Orientierung und emotionalen Halt, beide befreien sie aus dem subjektiven Gefühl der Ohnmacht und tragen schließlich dazu bei, entlang der Grenzen von "Gut" und "Böse" kollektive Identitäten auszubilden, die im Extremfall in eine Freund-Feind-Dichotomie münden. Abgesehen davon, dass gemäß der Auffassung von Karl Popper in Verschwörungstheorien die konspirative Elite an die Stelle der allmächtigen Götter tritt, unterscheiden sich Religionen und Verschwörungsmythen jedoch vor allem darin, dass letztere in der Regel keine positiven Aussagen über Heil und Erlösung tätigen, sondern es ganz bei der Identifikation und Bekämpfung des "Schlechten" belassen. Als rein "negative" Form des Glaubens wirken sich Verschwörungsnarrative umso destruktiver auf Politik und Gesellschaft aus und stoßen vor allem dort in ein prekäres intellektuelles und emotionales Vakuum vor, wo das Vertrauen in die wissenschaftliche und mediale Kommunikation ebenso längst erschüttert ist wie das in demokratische Institutionen sowie nicht zuletzt in Mitmenschen.

Prof. Dr. Oliver Hidalgo ist Inhaber des Lehrstuhls für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Politische Theorie an der Universität Passau. Seit 2009 ist er Sprecher des Arbeitskreises Politik und Religion der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) und leitet ab 1.2.2025 das interdisziplinäre Horizon Europe Projekt "TaCT-FoRSED" (Tackling Conspiracy Theories by Fostering Resilience and Political Self-Efficacy in Democracy). Das Verhältnis von Politik und Religion gehört neben den Gebieten der Politischen Ideenge-schichte und der Demokratietheorien zu den Schwerpunkten seines Forschungs- und Lehrprofils. Einige neuere Veröffentlichungen: Religionen als Brand- oder Friedensstifter? Ethik und Gesellschaft 2023 (mit Katja Winkler, Christian Spieß und Alexander Yendell); Islampolitik und Deutsche Islam Konferenz. Theoretische Diskurse – Empirische Befunde – Kritische Perspektiven (mit Schirin Amir-Moazami und Jörg Baudner) Wiesbaden 2023; Religion and Conspiracy Theories as the Authoritarian 'Other' of Democracy? In: Politics and Governance 10 (4) 2022 (Special Issue: "The Role of Religions and Conspiracy Theories in Democratic and Authoritarian Regimes"): 146–156; The Role of Religious Actors in the COVID-19-Pandemic. A Theory-Based Empirical Analysis with Policy Recommendations for Action, Stuttgart 2021 (mit Alexander Yendell und Carolin Hillenbrand).


Prof. Dr. Monika Wohlrab-Sahr
Professorin für Kultursoziologie und (Ko-)Direktorin der Kollegforschungsgruppe "Multiple Secularities: Beyond the West, Beyond Modernities", Universität Leipzig
Religion hat Grenzen!
Aber schon immer? Und überall?

Donnerstag · 23. Januar 2025 · 18:15 Uhr · N 1 (Muschel)

Vortragsaufzeichnung

Dass der Einflussbereich von Religion begrenzt ist, scheint uns – hier und heute – oft selbstverständlich. Religion ist für viele ein Aspekt des Lebens neben anderen, für andere spielt sie gar keine Rolle. In der Regel setzen wir voraus, dass die Religionsgemeinschaften sich nicht in die Belange des Rechts, der Wissenschaft oder der Politik einmischen. Und die Religionsgemeinschaften erwarten ebenfalls, dass sie ihren Glauben und ihre religiöse Praxis ohne Einflussnahme von außen regeln können.
Oft wird angenommen, all dies sei Resultat eines Prozesses der Säkularisierung, der sich vor allem in Europa vollzogen habe. In vormodernen Gesellschaften dagegen sei die Religion "überall" gewesen, und auch in anderen Teilen der Welt, etwa in der islamischen Welt oder in Indien, würden solche Grenzziehungen nicht existieren. Aber stimmt das alles so? Wo und seit wann finden sich derartige Grenzziehungen? Und wie kommt es dazu? Der Vortrag geht diesen Fragen nach und versucht, das Problem der Grenzen der Religion neu zu beleuchten.

Prof. Dr. Monika Wohlrab-Sahr ist seit 2006 Professorin für Kultursoziologie an der Universität Leipzig, nachdem sie dort eine Professur für Religionssoziologie innehatte. Längere Forschungsaufenthalte führten sie unter anderem nach Berkeley, Florenz, Montreal und New Delhi. Sie forschte unter anderem zur Konversion zum Islam in Deutschland und den USA, zum Säkularisierungsprozess in Ostdeutschland aus der Perspektive ostdeutscher Familien, und zuletzt in global vergleichender Perspektive zum Thema Säkularität. In den letzten 8 Jahren leitete sie mit Christoph Kleine die Kollegforschungsgruppe "Multiple Secularities: Beyond the West, Beyond Modernities", in der ein internationales Team von Fellows zur Frage der Grenzen des Religiösen in Geschichte und Gegenwart gearbeitet hat. Daraus ist u.a. die auf 7 Bände angelegte Reihe "Global Secularity. A Sourcebook" hervorgegangen (open access).


Prof. Dr. Michael Butter
Professor für Amerikanische Literatur und Kulturgeschichte, Principal Investigator, ERC-Projekt "Populism and Conspiracy Theory" (PACT), Eberhard Karls Universität Tübingen
Verschwörungstheorien als populistische Gegenerzählungen
Donnerstag · 30. Januar 2025 · 18:15 Uhr · N 1 (Muschel)

Vortragsaufzeichnung

Populismus und Verschwörungstheorien sind eng miteinander verbunden. Wie wichtig Verschwörungstheorien für eine bestimmte populistische Bewegung sind, hängt dabei davon ab, wie akzeptiert diese in einer bestimmten politischen Kultur sind, ob sie legitimes oder stigmatisiertes Wissen darstellen. Zwar können Verschwörungstheorien auch in Ländern, in denen sie stark stigmatisiert sind, zum Kitt populistischer Bewegungen werden, indem sie radikale Gegenerzählungen zur dominanten Perspektive anbieten, doch kommen diese Bewegungen in der Regel über eine bestimmte Größe nicht hinaus. In erfolgreicheren populistischen Bewegungen und Parteien, wie z.B. der AfD, werden Verschwörungstheorien dagegen meist nur von einer signifikanten Minderheit geglaubt. Zudem drehen sich Verschwörungstheorien, die für solche Bewegungen und Parteien wichtig sind, zumeist um Themen, die gesellschaftlich ohnehin kontrovers diskutiert werden, wie Migration, Klimawandel oder den Krieg in der Ukraine. In solchen Fällen fungieren Verschwörungstheorien weniger als Gegenerzählungen; vielmehr spitzen sie Mainstream- und noch nicht konspirationistische populistische Narrative zu und laden sie weiter moralisch auf.

Prof. Dr. Michael Butter ist Professor für Amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen und ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Er ist der Autor von "Nichts ist, wie es scheint": Über Verschwörungstheorien (Suhrkamp, 2018) und Mitherausgeber des Handbook of Conspiracy Theory (Routledge, 2020). Er leitet ein vom Europäischen Forschungsrat gefördertes Projekt zum Zusammenhang von Populismus und Verschwörungstheorie. Im Herbst 2025 erscheint bei Suhrkamp Die Alarmierten, in dem es um den verschwörungstheoretischen Diskurs seit der Pandemie, aber auch den Diskurs über Verschwörungstheorien in Deutschland geht.


Öffentliche Vorlesungsreihe:
Die Vorlesungsreihe "Die Macht von Überzeugungen. Weltanschauungen, Ideologien, Glaubenssysteme" ist öffentlich und richtet sich an alle Interessierten. Die Vorträge finden in der Regel als Präsenzveranstaltungen im Hörsaal N 1 in der "Muschel", Johann Joachim-Becher-Weg 23, statt.

Aufzeichnung:
Die Beiträge werden (vorbehaltlich der Zustimmung der Vortragenden) auch aufgezeichnet und sollen allen Interessierten auch nachträglich zugänglich sein. Einen Livestream gibt es bei den Präsenzveranstaltungen nicht. Die Links zu den Aufzeichnungen werden in der Regel einen Tag nach der Veranstaltung auf dieser Seite veröffentlicht.

Einfahrt auf den Campus:
Für Gäste gibt es ein Freikontingent von 30 Stunden pro Jahr für die Einfahrt mit dem PKW auf den Campus. Anhand der Kennzeichenerkennung bei Ein- und Ausfahrt wird die Verweildauer auf dem Campus automatisch ermittelt und abgerechnet. Mehr erfahren

Bildnachweis:
Woman with fist in the sky (Ausschnitt). Kieferpix, stock.adobe.com