Branching Scenario Infoseite 4: Parasoziale Beziehungen

Auf eine Influencerin sauer sein oder sich mit der Freundin darüber streiten - das ist schon etwas übertrieben, oder? Ist doch jedem Menschen klar, dass im Internet alles Inszenierung und Pose ist und es letztlich vor allem ums Geld geht.

👀 Ganz so leicht ist es aber nicht. Schließlich entstehen fast automatisch Beziehungen auch zu Medienpersonen, die wir häufiger wahrnehmen - und zwar auf die gleiche Art wie zu Menschen im realen Leben, durch Sympathie, Attraktivität, Ähnlichkeit... Das zugrunde liegende Konzept in der Medienpsychologie heißt "parasoziale Beziehung" und stammt schon aus den 1950er Jahren, wo es natürlich vorrangig um Medienpersonen aus Radio und Fernsehen ging (Horton & Wohl 1956, Horton & Strauss 1957). Die Analyse zeigt, dass Rezipient*innen sich in einer Als-Ob-Interaktion mit der Medienperson sehen, weil sie die Illusion einer Face-to-Face-Kommunikation haben - wir übertragen gewissermaßen die kommunikative Situation, die wir kennen, auch auf die medial vermittelte Situation. Das ist zwar einseitig und indirekt, aber auch erst einmal nicht wirklich problematisch.

💝 Im Gegenteil werden in psychologischen Studien durchaus auch positive Effekte beschrieben - etwa die persönliche Selbsterweiterung, psychisches Wohlbefinden, eine Kompensation von Bindungsängsten. Aber durch die einseitige Beziehung sind diese natürlich auch eine gewisse Gefahr, sowohl für die Beziehung selbst als auch für das reale Leben. Was passiert, wenn die Bezugsperson sich in Richtungen entwickelt, die seitens der Rezipient*innen oder Follower abgelehnt wird? Kann man sich in einer parasozialen Beziehung so verlieren, dass echte Interaktionen vernachlässigt oder nur danach ausgerichtet werden, ob sie zur geliebten Medienperson passen?

📱 Durch die Zunahme von Social Media sind die Zahl dieser Interaktionen gewaltig gestiegen, Influencer*innen wie Plattformen haben ein Interesse daran, Nutzende möglichst lange zu interessieren oder zu unterhalten, weshalb die Plattformen so designt sind, dass die Beziehungsillusion möglichst intensiv und lange bestehen bleibt. Dadurch kann es verstärkt zu den genannten Effekten kommen. Ebenfalls befürchtet wird, dass Menschen, die nur noch mediale Beziehungen führen, all das verpassen, was sonst aktiv betrieben wird oder was nebenher passiert. Soziale Isolation droht. Neuerdings kommen sogar KI-basierte Medienpersonen als potenzielles Gegenüber einer solchen Beziehung hinzu.

💬 Ob das eine reale Gefahr ist, lässt sich individuell wie gesellschaftlich nicht abschließend beantworten. Vermutlich sind problematische Nutzungsweisen da am wahrscheinlichsten, wo parasoziale Beziehungen andere Formen wirklich ersetzen. Etwas Selbstbeobachtung, Aufmerksamkeit für allgemeine Entwicklungen und ein Bewusstsein für Wirkmechanismen von Social Media Plattformen kann natürlich nicht schaden. Unsere beiden Studentinnen haben auf jeden Fall noch genug real life...

Weitere Materialien und Infos:
Donald Horton, R. Richard Wohl: Mass communication and para-social interaction. Observations on intimacy at a distance, in: Psychiatry 1956, 19(4), 215-229. Online unter https://doi.org/10.1080/00332747.1956.11023049.
Donald Horton, Anselm Strauss: Interaction in Audience-Participation Shows, in: American Journal of Sociology, Vol. 62, No. 6 (May 1957), pp. 579–587, published by The University of Chicago Press.
Ein Text zu parasozialen Beziehungen bei der Bundeszentrale für politische Bildung (2024): Link
Ein Gespräch (5:40 min) mit der Sozialpsychologin Dr. Johanna Degen bei Deutschlandfunk Nova (2024): Link
Eine Masterarbeit von der TH Köln (Jasmin Weiser, 2024), die psychische Gesundheit und parasoziale Beziehungen zu Musiker*innen untersucht - am Beispiel von Harry Styles: Link