VORTRÄGE IN DER MUSIKWISSENSCHAFT
Vortragsreihe des Musikwissenschaftlichen Instituts zum Themenschwerpunkt des Studium generale
»NORMEN UND KULTUREN«
Dr. Peter NIEDERMÜLLER (Mainz) und Dr. Dr. Stefan SEIT (Tübingen)
Claudio Monteverdis späte Opern als neoplatonischer Gegenentwurf zum aristotelischen Theater
Donnerstag, 2. Februar 2006, 19.15 Uhr
Hörsaal des Musikwissenschaftl. Instituts (Philosophicum, linker Vorbau)
Claudio Monteverdis (1567–1643) letzte Oper »L’incoronazione di Poppea« (Venedig, 1642/43) kann mit ihrem Textbuch von Giovanni Francesco Busenello als eine 'philosophische' Oper gelten: L. Annaeus Seneca, Lehrer Neros und zunächst sein wichtigster politischer Ratgeber, tritt in der Oper persönlich als handelnde Person in Erscheinung, und zwar auch als Philosoph, dem die tödlich endende Konfrontation mit dem exemplarischen Tyrannen Anlass zur Präsentation der Kernbestände einer politischen Ethik und schließlich zur definitiven Beglaubigung seiner stoisch-philosophischen Lehre bietet. Damit aber wird die Philosophie selbst in der Oper thematisch. Theoriestücke aus Senecas Schriften werden immer wieder nahezu direkt zitiert. Jedoch formuliert bereits der Prolog eine komplexere Programmatik: Die Handlung um Nero, Poppea, Seneca und die teilweise historischen, teilweise fiktiven Neben- und Randfiguren wird von Amore in der Auseinandersetzung mit Virtù und Fortuna als Beleg und Beispiel seines Vorranges eingeführt: Die Liebe ist das Prinzip, das dem Weltgeschehen zugrundeliegt, nicht jedoch die je eigene sittliche Anstrengung, die in der Freiheit des Weisen gegenüber den äußeren Kontingenzen gipfelt, oder das der Tugend entgegengesetzte, sich ständig wandelnde Glück als Inbegriff dieser Zufälligkeiten. Glück und Tugend sind vielmehr geradezu Instrumente, derer sich die Liebe bei der Lenkung der Welt bedient. Indem Busenello, Mitglied der »Accademia dei Incogniti«, in »L’incoronazione di Poppea« den die Gegensätze vermittelnden Sieg der Liebe über Tugend und Glück feiert, entmoralisiert er die Liebe zum alles übergreifenden kosmischen, transzendent-transzendentalen Prinzip.
Dieses philosophische Liebeskonzept soll im Vortrag untersucht werden. Es wird weiterhin konfrontiert mit der Darstellung der tugendhaften, beständigen und treuen ehelichen Liebe der Penelope in Monteverdis und Giacomo Badoaros »Il ritorno d’Ulisse in patria« (Venedig, 1640), die freilich ihre konzeptionelle Entsprechung in »L’incoronazione« in der Tugend und Liebe verbindenden Haltung der Drusilla zu Ottone findet. Auch Badoaro zeigt den Triumph einer Liebe, die alle Wechselfälle des Glücks zu überdauern vermag und die das Gegenstück zur 'Heimkehr' des Menschen, nämlich von Penelopes Ehemann Odysseus, darstellt, der seinerseits zuvor diesen äußeren Kontingenzen, letztlich aber seiner eigenen Vergänglichkeit und 'Gebrechlichkeit', ausgesetzt war und sich ihnen gegenüber zu behaupten hatte.
Der musikwissenschaftliche Teil des Vortrags widmet sich den Fragen, ob und wie sich der philosophische Gehalt der Libretti in der musikalischen Gestaltung niederschlägt. Auffällig ist hier die kompromisslose 'Psychologisierung' der Handlung. Diese unterstreicht zum einen das analoge Verhältnis vieler Szenen in beiden Opern, vor allem aber verunmöglicht sie gezielt die Aristotelische Katharsis. So kulminiert »L’incoronazione« (bezeichnenderweise ebenso wie »Il ritorno«) in einem Liebesduett, das dem Zuhörer jede moralisierende Distanz nimmt.
Dr. Peter Niedermüller studierte Musikwissenschaft, Philosophie, Geschichte und Pädagogik in Würzburg. 1999 wurde er mit einer Arbeit zu Carlo Gesualdo promoviert, seit 2000 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Johannes Gutenberg-Universität. Er ist consultant editor der Zeitschrift Ad parnassum. Schwerpunkte der Arbeit sind Musik und Musiktheorie der Renaissance, Musik des 19. und 20. Jahrhunderts, Popmusik.
Dr. Stefan Seit studierte Germanistik, Katholische Theologie, Philosophie und Geschichte. 1999 wurde er (in Bamberg) mit einer Studie zur Wissenschafts- und Bildungsgeschichte der Katholischen Theologie im 19. Jahrhundert in Katholischer Theologie, 2005 (in Tübingen) mit einer Untersuchung zu Johannes von Salisbury in Philosophie promoviert. Er ist Mitglied und Sprecher einer Nachwuchsforschergruppe der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Arbeitsschwerpunkte sind Fragen der Philosophie- und Theologiegeschichte von der Spätantike bis zur Frühen Neuzeit, gegenwärtig insbesondere Fragen der politischen Theorie im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit (Habilitationsprojekt).
Nächster Vortrag in dieser Reihe:
Dr. Helga Lühning (Bonn)
Edition und Werkvorstellung: Beethoven als Herausgeber seiner eigenen Werke
Donnerstag, 16. Februar 2006, 19.15 Uhr, Hörsaal des Musikwissenschaftlichen Instituts