VORTRÄGE IN DER MUSIKWISSENSCHAFT
Vortragsreihe des Musikwissenschaftlichen Instituts
zum Themenschwerpunkt
ZUFALL – SCHICKSAL – NOTWENDIGKEIT
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PD Dr. Ralf Martin Jäger (Münster) -
Der zufällige Weg der türkischen Musikkultur nach Europa
Donnerstag, 12. Mai 2005, 19.00 Uhr
Hörsaal des Musikwissenschaftl. Instituts (Philosophicum, linker Vorbau)Es zählt heute zu den Selbstverständlichkeiten, dass in den türkischen Metropolen qualitativ hochwertige Inszenierungen westlicher Opern besucht oder exzellent interpretierte symphonische Musik gehört werden kann. Ebenso wenig ungewöhnlich erscheint die ständige Präsenz türkischer Virtuosen wie etwa die des gefeierten Pianisten Fazıl Say in den großen Konzertsälen der Welt.
Tatsächlich jedoch – aus einer historischen Perspektive betrachtet – ist gerade diese Alltäglichkeit westlicher Tonkunst in der modernen Türkei als eine der großen Zufälligkeiten in der Musikgeschichte zu bewerten. Denn die vermehrte Rezeption dieser den Türken im 18. Jahrhundert noch zutiefst fremden und exotischen Musik ist nicht allein auf politische Konzepte der jungen Türkischen Republik zurückzuführen, sondern sie begann bereits spätestens ein Jahrhundert zuvor unter dem Reformsultan Mahmud II. (1785–1839; Sultanat 1808–1839). Die seitdem durchlaufenen kulturhistorischen Prozesse, die keineswegs gradlinig zur Herausbildung einer westlich-bürgerlichen Musikkultur führten, erweisen sich als abhängig von einer Vielzahl unvermuteter politischer, gesellschaftlicher und kultureller Faktoren, denen der Vortrag nachgehen wird.
Die Kenntnis der zu einem guten Teil vom Zufall geprägten Dynamik der musikalisch-kulturellen Entwicklungen der Türkei in Richtung Westen ist nicht nur interessant für das Verständnis der kulturellen Identität des Landes an den Grenzen Europas, sondern sie bietet gleichsam paradigmatisch historische Raster für die Bewertung ähnlicher Prozesse, die gegenwärtig in vielen Kulturen der Welt zu beobachten sind. Und nicht zuletzt dürfte das Wissen um die Europäisierung der türkischen Kunstmusik im 19. Jahrhundert neue Impulse liefern für die seit dem Entschluss der Europäischen Gemeinschaft, mit der Türkei Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, leidenschaftlich geführte Diskussion um die kulturelle Kompatibilität des Brückenlandes zwischen Orient und Okzident mit dem europäischen Staatenverbund.Ralf Martin Jäger, geboren 1963 in Lengerich (Westfalen). 1985 bis 1993 Studium der Musikwissenschaft, Anglistik und Erziehungswissenschaften in Münster. 1993 Promotion an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit 1997 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Musikwissenschaftlichen Seminar und kommissarischer-Leiter der Forschungsstelle für theoretische Musikwissenschaft. 1999 Habilitation und Verleihung der venia legendi für Musikwissenschaft. Im Wintersemester 1999/2000 Professur-Vertreter in Bonn sowie vom Wintersemester 2000/2001 bis zum Sommersemester 2004 Lehrstuhlvertreter in Münster. Derzeit Privatdozent dortselbst. Seit 1995 Leiter der Dissertationsmeldestelle der Gesellschaft für Musikforschung. 2000 bis 2004 Vizepräsident des deutschen Nationalkomitees im International Council for Traditional Music (UNESCO). Seit 2002 stellvertretender Vorsitzender der Fachgruppe Musikethnologie der Gesellschaft für Musikforschung. Lehraufträge in Göttingen, Mainz und Zürich. – 2005 für seine interkulturellen Forschungen ausgezeichnet mit dem gemeinsam von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Königlich Niederländischen Akademie der Wissenschaften vergebenen Hendrik Casimir-Karl Ziegler-Forschungspreis.
Nächster Vortrag in dieser Reihe:
Prof. Dr. Giselher Schubert (Frankfurt am Main)
Zufall und Notwendigkeit. Zur Gestaltung des musikalischen Ausdrucks beim frühen Hindemith
Donnerstag, 2. Juni 2005, 19.00 Uhr, Hörsaal des Musikwissenschaftlichen Instituts