Das Mainzer Polonicum – Slavistik/Polonistik und das Studium generale laden zu folgendem Vortrag ein:
Prof. Dr. Alfred Gall
(Institut für Slavistik, Universität Mainz)
Literatur und Nation: Facetten einer Grundspannung in der polnischen Kultur
Montag, 30. Juni 2008, 19.00 Uhr, P 12 (Philosophicum)
Im Verlauf des 19. und des 20. Jahrhunderts war die polnische Literatur in vielfältiger und enger Weise mit Geschichte und Politik verknüpft. Im Zeitalter der Teilungen und der Staatenlosigkeit war die Literatur unter anderem ein Reflexions- und Gestaltungsmedium, das die Selbstbehauptung der polnischen Kultur unterstützte und zugleich Zukunftsentwürfe einer von Fremdherrschaft befreiten und wiederum vereinten polnischen Nation gestaltete. Auch im 20. Jahrhundert blieb die Literatur eng mit Fragen der nationalen (und gesamteuropäischen) Geschichte verzahnt: Die leidvolle Erfahrung des Zweiten Weltkriegs, die direkte Konfrontation mit dem Nationalsozialismus sowie dem Stalinismus und die nach dem Krieg erfolgende Zwangsintegration in den sowjetisch dominierten Ostblock haben auch in der Literatur ihre Spuren hinterlassen. Es sind nicht zuletzt literarische Texte, die einen wichtigen Beitrag zur kritischen Auseinandersetzung mit diesen historischen Erfahrungen darstellen und für die Selbstbeschreibung der polnischen Nation eine große Bedeutung besitzen. Und es sind wiederum Autorinnen und Autoren, die auch an der Epochenwende von 1989 auf mannigfaltige Art und Weise beteiligt waren. Stets ist in der polnischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts aber auch das Bestreben spürbar, sich in gesamteuropäischen Traditionen zu verorten.
Im Vortrag sollen in einem Rückblick auf das 19. und das 20. Jahrhundert grundlegende Aspekte und Entwicklungslinien des Verhältnisses von Literatur und Nation in der polnischen Kultur exemplarisch erörtert werden.
Prof. Dr. Alfred Gall, geb. 1971 in Walenstadt (CH), seit 2006 Professor für westslavische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und wissenschaftlicher Leiter des Mainzer Polonicums, Studium in Zürich und Sankt-Petersburg (1991–1996), Assistent am Slavischen Seminar der Universität Zürich, Promotion 2000, 2000 bis 2001 Forschungsaufenthalt in Warschau, Habilitation 2004. 2005 Gastprofessur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Polnische, russische, serbische sowie kroatische Literatur und Kultur v. a. des 19. und 20. Jahrhunderts, Systemtheorie, Poststrukturalismus, Literaturgeschichte. Publikationen: Hermetische Romantik: Die religiöse Lyrik und Versepik F. N. Glinkas aus systemtheoretischer Sicht. Slavica Helvetica, Bd. 67. Bern etc. 2001; Performativer Humanismus. Die Auseinandersetzung mit Philosophie in der literarischen Praxis von Witold Gombrowicz. Mundus polonicus, Bd. 1. Dresden 2007.