Prof. Dr. Alfred Gall · Vortragsexposé · Wintersemester 2009/2010

Der Interdisziplinäre Arbeitskreis für Drama und Theater und das Studium generale laden im Rahmen der Ringvorlesung WENDEZEITEN UND EPOCHENUMBRÜCHE: DIE AUSEINANDERSETZUNG MIT HISTORISCHEN ZÄSUREN IM DRAMA zu folgendem Vortrag ein:

Prof. Dr. Alfred Gall (Institut für Slavistik, Universität Mainz)

Finis Poloniae – vom Untergang zum Übergang: Dramatik der Sinnstiftung in der polnischen Literatur des 19. Jahrhunderts

Montag, 18. Januar 2010, 18.15 Uhr, P 4 (Philosophicum)

Der Verlust der Eigenstaatlichkeit als Folge der drei Teilungen am Ende des 18. Jahrhunderts sowie die scheiternden Aufstände gegen die Teilungsmächte haben in der polnischen Kultur des 19. Jahrhunderts mannigfaltige Spuren hinterlassen. Besonders für die polnische Romantik gilt, dass die Literatur – und v. a. das Drama – zum Ausdrucksmedium wird, in dem über den Sinn dieses historischen Umbruchs (Finis Poloniae) reflektiert wird. Dabei kontrastiert die traumatische Erfahrung der Realgeschichte, aber auch die prekäre Stellung des Theaters unter den Bedingungen von Fremdherrschaft oder Emigration, mit der weit ausgreifenden Imagination in der Dramatik.
Das romantische Drama entwirft Denkfiguren für die Modellierung der geschichtlichen Erfahrung und wird so zum imaginären Bezugshorizont, der die Geschichte überwölbt. In der Neukontextualisierung geschichtlicher Zusammenhänge manifestieren sich denn auch die pragmatischen Dimensionen der romantischen Dramatik, die in verschiedenen Weisen der Sinnstiftung den Untergang des polnischen Staats zu einem Übergangsphänomen umcodiert: Die Negativität der Realerfahrung wird durch die dramatische Modellierung eines imaginären Geltungshorizonts mit Positivität durchsetzt und auf Zukunftsperspektiven hin geöffnet. Im Vortrag soll am Beispiel ausgewählter Dramen von Adam Mickiewicz und Juliusz Słowacki der Zusammenhang von Dramatik und Sinnstiftung untersucht werden.

Alfred Gall, seit 2006 Professor für westslavische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und wissenschaftlicher Leiter des Mainzer Polonicums. Studium in Zürich und Sankt-Petersburg, Promotion 2000, 2001–2002 Forschungsaufenthalte in Warschau und Tübingen, Habilitation 2004. 2005 Gastprofessur an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Forschungsschwerpunkte: Polnische und russische Literatur und Kultur v. a. des 19. und 20. Jhs., Systemtheorie, Poststrukturalismus, (Neo-)Pragmatismus. Publikationen: Hermetische Romantik: Die religiöse Lyrik und Versepik F. N. Glinkas aus systemtheoretischer Sicht. Slavica Helvetica, Bd. 67. Bern etc. 2001; Performativer Humanismus. Die Auseinandersetzung mit Philosophie in der literarischen Praxis von Witold Gombrowicz. Mundus polonicus, Bd. 1. Dresden 2007; Romantik und Geschichte. Polnisches Paradigma, europäischer Kontext, deutsch-polnische Perspektive. Hg. v. Alfred Gall, Thomas Grob, Andreas Lawaty u. a. Wiesbaden 2007.

Nächster Vortrag in dieser Reihe:
Prof. Dr. Frank Göbler (Institut für Slavistik, Universität Mainz)
Zeit der Wirren. Die russische Staatskrise des frühen 17. Jhs. im Spiegel der Dramatik
Montag, 25. Januar 2010, 18.15 Uhr, P 4 (Philosophicum)