Prof. Dr. Carola Lentz – Vortragsexposé – Wintersemester 2004/2005

Themenschwerpunkt
»Wissenschaft und Zeitgeist«

Prof. Dr. Carola Lentz
(Prof. für Ethnologie, Institut für Ethnologie und Afrikastudien, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz)

Primitive Anarchisten oder traditionelle Demokraten?
Eine afrikanische Gesellschaft im Spiegel europäischer Theoriegeschichte

Montag, 31. Januar 2005, 18.15 Uhr, Hörsaal N 3 (Muschel)

Traditionell „staatenlose“ Gesellschaften in Afrika haben europäische Beobachter seit langem fasziniert. Den ersten europäischen Reisenden und den frühen Kolonialadministratoren galten sie als Beispiel einer primitiven Anarchie, die der europäischen Zivilisierung bedurfte, und als lebendes Überbleibsel eines hobbesianischen Naturzustands des „Kriegs aller gegen alle“. Britische Sozialanthropologen entdeckten aber bald, dass die scheinbare Anarchie geordnet war und dass Verwandtschaft (Lineages) und rituell abgesicherte Nachbarschaft (Erdschrein-Gebiete u.ä.) als Grundbausteine der sozialen Ordnung diese politisch nicht-zentralisierten Gesellschaften zusammenhielten. Auch manche Kolonialverwalter entwickelten nun einen neuen Blick auf die zunächst als „barbarisch“ gebrandmarkten Gesellschaften und entdeckten in ihnen Grundzüge einer ursprünglichen Demokratie, die es zu erhalten und weiterzuent¬wickeln galt. Dabei wurden sie sogar zu Modellen stilisiert, von denen die durch Klassenkämpfe und Kriege geschüttelten europäischen Staaten etwas lernen könnten - ein Blick auf außereuropäische segmentäre Gesellschaften als gelebte politische Utopie, den in den 1970er Jahren marxistisch inspirierte Intellektuelle forcierten. Teile der heranwachsenden afrikanischen Bildungselite wiederum knüpften manch¬mal an diese utopisch-positive Perspektive an und entwickelten Stolz auf die „Staatenlosigkeit“; die meisten aber empfanden sie als Makel und durchforsteten die Geschichte ihrer Gesellschaften auf der Suche nach Spuren von Herrschaft und Häuptlingstum.
Der Vortrag wird diesen unterschiedlichen Perspektiven auf ein und dieselbe Gesellschaft am Beispiel der Dagara nachgehen, einer einst „staatenlosen“ Gesellschaft im heutigen Nordghana und Süden von Burkina Faso, bei der die Vortragende seit 1987 zahlreiche Feldforschungen und historische Untersuch¬ungen betrieben hat. Bei der Analyse des geschichtlichen und politischen Kontexts dieses Perspektiv¬wandels wird auch deutlich werden, dass es zu keiner Zeit einen jeweils einheitlichen „Zeitgeist“ gegeben hat, der alle Beobachter inspiriert hätte, sondern immer schon Vielstimmigkeit und Kontroversen.

Publikationen der Referentin zum Thema (Auswahl):
„Staatenlose Gesellschaften oder Häuptlingstümer? Eine Debatte unter Dagara Intellektuellen.“ In: Behrend, Heike und Thomas Geider (Hg.), Afrikaner schreiben zurück. Texte und Bilder afrikanischer Ethnographen. Köln (Köppe Verlag) 1998: 207–43.
„'Chieftaincy has come to stay'. La chefferie dans les sociétés acéphales du Nord-Ouest Ghana“, Cahiers d'Etudes Africaines 159, 2000: 593–613.