STUDIUM GENERALE – MAINZER UNIVERSITÄTSGESPRÄCHE
WIE FREI IST DER MENSCH?
Prof. Dr. Dr. h.c. Bert Hölldobler
Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessor 2001
Die Ablehnung des Fremden:
Evolutionsbiologische Wurzeln der Xenophobie
Mittwoch, 10. November 2004, 18.15 Uhr, Hörsaal N 1 (Muschel)
Dass der Mensch in erheblichem Maße durch seine evolutionsbiologischen Wurzeln bestimmt wird, zeigt das Beispiel der Xenophobie, der Ablehnung des Fremden. Schon Zellen können Verwandtschaft erkennen, und Mediziner, die Organe verpflanzen, müssen mit Hilfe immunphysiologischer Techniken dieses Erkennungssystem unterlaufen, um ein Abstoßen des fremden Gewebes zu verhindern. Die Zellen unterscheiden also zwischen Selbst und Nicht-Selbst. Wir finden Verwandten-Erkennen und Diskriminieren von Nichtverwandten nicht nur bei Zellen und Geweben, sondern auch bei Organismen. Das Ablehnen, Abstoßen, Vermeiden oder gar Attackieren des Fremden ist ein wesentlicher Teil der Interaktionen von Individuen vieler Tierpopulationen, und es ist besonders stark ausgeprägt bei solchen Arten, die gegenüber Nahverwandten ein ausgeprägtes bio-altruistisches bzw. Helfer-Verhalten zeigen. Wenn man also über die Evolution von Xenophobie spricht, muss man sich zunächst mit der Evolution ihres Gegenteils, nämlich des Bio-Altruismus beschäftigen. Bio-Altruismus, darunter versteht man ein auf genetischen Programmen beruhendes altruistisches Verhalten. Nirgendwo sonst ist dieser Bio-Altruismus so hoch entwickelt wie bei den Staaten bildenden Insekten (z. B. Ameisen, sozialen Bienen und Wespen, Termiten). Die Kolonien dieser Insekten sind arbeitsteilig organisierte Sozietäten, in denen die Aktivitäten der oft Hunderttausenden von Individuen durch ein vielgestaltiges Kommunikationssystem geregelt werden. Solche Sozietäten funktionieren wie ein Superorganismus, in dem das Leben des einzelnen Individuums wenig, die Sozietät dagegen alles zu bedeuten scheint. Während sich eine Ameisen- oder Bienenarbeiterin "selbstaufopfernd altruistisch" ihren "Staatsgenossinnen" gegenüber verhält, zeigen sie hoch aggressive Ablehnung gegenüber allen Artgenossinnen aus fremden Sozietäten.
Der Vortrag wird das Problem der Xenophobie vor einem breiten Hintergrund des antagonistischen Verhaltens von Lebewesen betrachten. Er wird aus evolutionsbiologischer Perspektive nach den Ursachen des Bio-Altruismus und der Xenophobie in der Natur, auch in der Natur des Menschen, fragen. Dabei soll nach Anpassungsstrategien, nach analogen Verhaltensstrukturen gesucht werden, die im Laufe der Evolution bei sehr verschiedenen Tiergruppen, so z. B. bei sozialen Insekten und bei Primaten, entstanden sind.
Bert Hölldobler, geb. 1936, Professor für Verhaltensphysiologie und Soziobiologie, Theodor-Boveri-Institut für Biowissenschaften der Universität Würzburg. Von 1973 bis 1990 Professor für Biologie an der Harvard-Universität in Cambridge. Träger u. a. des Leibniz-Preises, des Körber-Preises für die Europäische Wissenschaft und des Bayerischen Maximiliansordens. Als Evolutions- und Ameisenforscher erhielt er zusammen mit Edward O. Wilson den Pulitzer-Preis für das Buch "The Ants" (1990). Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessor 2001 mit einer Vorlesungsreihe unter dem Titel "Die soziobiologische Revolution".
Nächster Vortrag in dieser Reihe:
Prof. Dr. Ansgar Beckermann (Professor für Philosophie, Universität Bielefeld)
Willensfreiheit – nichts als eine Illusion?
Mittwoch, 1. Dezember 2004, 18.15 Uhr, Hörsaal N 1 (Muschel)