THEMENSCHWERPUNKT DES STUDIUM GENERALE
DAS NEUE IN DER WISSENSCHAFT
Grundlagen wissenschaftlicher Erkenntnis
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans Lenk (Karlsruhe)
Philosophieren als kreatives Transzendieren
Montag, 15. November 2010, 18:15 Uhr, Hörsaal N 1 (Muschel)
Martin Heidegger hatte 1929 in seiner Vorlesung zur "Einführung in die Philosophie" das Philosophieren als "Transzendieren" definiert, als das Überschreiten von Grenzen, als Übersteigen, als "Überstieg".
Man könnte das Philosophieren, soweit es konstitutiv und kreativ ist, als ein (meta)symbolisches Transzendieren oder Metainterpretieren verstehen. Das kreative Philosophieren ist in diesem Sinne z. T. Schichten übergreifendes Entwerfen. Es ist interpretativ aufsteigend, Sprach- und Theorieschichten übergreifend, Metastufen bildend, wirkt in diesem Sinne aktiv, formativ, ist eben transformierend, insofern es eine neue Symbolschicht eröffnet – und neue Metaphern ermöglicht, indem z. B. neue Symbole oder Symbolkombinationen und Symbole für Symbole verwendet werden. Es erschließt sich eine Fruchtbarkeit der Metaphernbildung durch Gewinnung oder Bildung neuer Perspektiven, seien es Perspektiven auf höherer Ebene oder in derselben Schicht. Solch ein Philosophieren ist in der Tat als ein kreatives "metasymbolisierendes Transformieren" aufzufassen, als ein bewusstes Einsetzen neuer Gesichtspunkte, höherstufiger Perspektiven, neuer Metaphern.
Menschen können so über einzelne Sprachschichten, ja, Metasprachen und -theorieschichten "hinauf steigen". Das "symbolische Wesen" (Cassirer) ist auch das "metainterpretierende", das metasymbolisch transzendierende, die Gegenstände, die Symbole und Metasymbole (Symbole über Symbole) übersteigende Wesen. Es kann in diesem Sinne eine Art von "Aufstieg", ein (super)interpretierendes Übersteigen (Transzendieren) und so ein Transformieren seiner bisherigen Perspektiven leisten – und zwar nicht nur durch Umbildung von Grenzen in derselben Schicht, sondern auch durch Aufsteigen zu einer höheren Deutungsschicht.
Es lässt sich von höheren Deutungs- oder Reflexionsstufen sprechen, die man in einem "interpretativen Aufstieg", d. h. unter Verwendung von höherstufigen Symbolen, Metasymbolen, erreicht. Dieses transzendierende Interpretieren und Metainterpretieren, ein "übersteigendes" Interpretieren und Konstituieren, stellt gleichsam ein konstruktives Bilden von Hypothesen und Entwürfen mit Selbstbezug dar und geht mit einer Rückwendung des Denkens auf sich selbst einher – von einer höheren Perspektive aus. Ein solches transzendierendes Reflektieren und Metareflektieren, ein Reflektieren über das eigene Reflektieren und Interpretieren ist ein metasymbolisches Transzendieren oder Super- bzw. Metainterpretieren. Es ist u. U. ein produktives, aktives und kreatives Gestalten-Bilden. Man kann idealer Weise von "kreativen Aufstiegen" sprechen. Neue alternative Sichtweisen werden eröffnet, plurale und auch höherstufige Perspektiven entwickelt, andere Symbolarten eingeführt, die u. U. zu ganz neuen abstrakten, sprachlichen oder bildlichen Repräsentationen führen. Der Mensch ist nicht nur das Symbole verwendende "kreative Wesen", sondern auch das "meta-interpretierende" oder "metasymbolische Wesen", das kreativ neue Metaphern ("Kreataphern") schaffen kann.
Hans Lenk, emeritierter Professor am Institut für Philosophie der Universität Karlsruhe. Olympiasieger 1960 (Rudern, Achter), Cotrainer WM-Achter 1966. 1961 Promotion an der Universität Kiel, 1966/69 Habilitationen an der Technischen Universität Berlin in Philosophie/Soziologie. 8 Ehrendoktorate, u.a. in Córdoba/Arg., Budapest, Moskau, Rostov/Don, Köln, o. Auslandsmitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften. Ehem. Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie; früher Vizepräsident der Weltgesellschaft für Philosophie (FISP), heute Präsident 4 internationaler philosophischer Gesellschaften. 2005–2008 Präsident des Institut International de Philosophie (Weltakademie der Philosophen), seit 2008 Ehrenpräsident des I. I. P.
Neuere Veröffentlichungen (Auswahl): Eigenleistung (1983); Die achte Kunst (1995); Interpretationskonstrukte (1993); Schemaspiele (1995); Einführung in die angewandte Ethik (1997); Einführung in die Erkenntnistheorie (1998); Konkrete Humanität (1998); Praxisnahes Philosophieren (1999); Kreative Aufstiege (2000); Erfassung der Wirklichkeit (2000); Denken und Handlungsbindung (2001); Das Denken und sein Gehalt (2001); Kleine Philosophie des Gehirns (2001); Erfolg oder Fairness? (2002); Natur, Umwelt, Ethik (2003) [mit M. Maring]; Grasping Reality (2003); Bewusstsein als Schemainterpretation (2004); Global TechnoScience and Responsibility (2007); Dopium fürs Volk? (2007); Bewusstsein, Kreativität und Leistung (2007); Humanitätsforschung als interdisziplinäre Anthropologie (2008); Das flexible Vielfachwesen (2010).
Nächster Vortrag in dieser Reihe:
Prof. Dr. Wolfgang Zwickel (Altes Testament und Biblische Archäologie, JGU Mainz)
Leben von Frauen im antiken Palästina
Montag, 22. November 2010, 18:15 Uhr, Hörsaal N 1 (Muschel)