Themenschwerpunkt des Studium generale
"Biologisch determiniert? Menschsein zwischen Zwang und Autonomie"
Prof. Dr. Dr. Hans-Rainer Duncker (Gießen)
Die nicht-darwinistischen Evolutionsmechanismen, welche die Entwicklung der Menschen zu Sprach- und Kulturwesen entscheidend bestimmt haben
Dienstag, 27. Januar 2009, 18.15 Uhr, Hörsaal N 1 (Muschel)
Die darwinistischen Evolutionsmechanismen sind für die Ausbildung der speziellen Körperstrukturen und -proportionen der modernen Menschen, deren besondere Leistungsfähigkeit und insbesondere für die gewaltige Vergrößerung der menschlichen Großhirnrinde verantwortlich. Die Entwicklung der Menschen zu Sprach- und Kulturwesen und die Ausbildung von primär mehr als 6800 verschiedenen Sprach- und Kulturgemeinschaften sind mit den bekannten Mechanismen eines zufälligen Auftretens von genetischen Mutationen oder Änderungen der Anordnungen der Gene im Genom sowie von zeitlichen oder quantitativen Änderungen ihrer Aktivitäten nicht erklärbar. Für ein zureichendes Verständnis der modernen Menschen ist es erforderlich, zwei wesentliche, in der Entwicklung der Menschen neu ausgebildete Mechanismen genauer zu betrachten. Bei der Vergrößerung der menschlichen Großhirnrinde wurden ihre tertiären Assoziationsareale nicht nur weitgehend neu ausgebildet, sondern für die qualitative Ausdifferenzierung ihrer Funktionen existieren keine genetisch festgelegten Programme, die aufwachsenden Kinder und Jugendlichen können sich alle sprachlichen und kulturellen Fähigkeiten ihrer Kulturgemeinschaft nur durch ihre Sozialisation, ihre Erziehung und ihre Ausbildung in ihrer Gemeinschaft aneignen. Dadurch entstand ein neuer Tradierungsmechanismus in den Kulturgemeinschaften, der es ermöglichte, neben der Weitergabe ihres Denk- und Handlungsbestandes auch die von einer Elterngeneration neu erworbenen Einsichten, Erfahrungen, Vorstellungen und Denkfähigkeiten unmittelbar an ihre Nachkommen zu übergeben. Dadurch können alle von kreativen Mitgliedern einer Gemeinschaft hervorgebrachten und in den Vorstellungsbestand einer Gemeinschaft eingegliederten sprachlichen, kulturellen und technischen Neuentwicklungen von den aufwachsenden Kindern und Jugendlichen unmittelbar in ihr Denken und Handeln aufgenommen werden, wodurch sie diese Neuentwicklungen als erwachsene Mitglieder ihrer Gemeinschaft in ihrer praktischen Tätigkeit umsetzen können. Sowohl das Ausmaß der Entwicklungsvorgänge, welche den modernen Menschen ihre Ausbildung zu Sprach- und Kulturwesen ermöglichte, wie die Geschwindigkeit der Entfaltung ihrer Kulturgemeinschaften zu Hochkulturen wäre mit darwinistischen Evolutionsmechanismen überhaupt nicht möglich gewesen.
Hans-Rainer Duncker, geb. 1933, Professor em. für Anatomie am Institut für Anatomie und Zellbiologie der Justus-Liebig-Universität Gießen. Studium der Biologie, der Medizin und der Anthropologie an den Universitäten Hamburg, Tübingen, Kiel und Wien. Dr. rer. nat. Kiel 1964, Dr. med. Hamburg 1967, Habilitation für das Fach Anatomie Hamburg 1969, Professur für Anatomie Gießen 1971, Emeritierung 2001. Auf vergleichend-anatomischen und embryologischen Arbeiten über die extra-kutanen Pigmentierungen niederer Wirbeltiere folgten umfangreiche Untersuchungen der funktionellen Morphologie des Lungen-Luftsack-Systems der Vögel und der Evolution ihrer Ontogeneseformen sowie Untersuchungen der stammesgeschichtlichen Entwicklungen der Atemapparate der Wirbeltiere von den Fischen und Amphibien über ihre große Mannigfaltigkeit bei den Reptilien bis zu den bei Vögeln und Säugetieren vollkommen different gebauten Atemapparaten, einschließlich des Menschen. In den letzten 15 Jahren bilden Untersuchungen einer evolutionsbiologischen Anthropologie den Arbeitsschwerpunkt.