Studium generale: Mainzer Universitätsgespräche
"Zukunft Denken. Mythen, Mentalitäten, Prognosen"
Prof. Dr. Hans Esselborn
Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Universität zu Köln
Die Erfindung der Zukunft in der Literatur
Mittwoch, 18. Mai 2016, 18:15 Uhr, N 1 (Muschel)
Bevor die Literatur eine interessante und relevante Zukunft erfinden kann, müssen einige Voraussetzungen gegeben sein. Im neuzeitlichen Westeuropa muss ausgehend vom jüdisch-christlichen Konzept einer zielorientierten Zeit die aufklärerische Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts die Zukunft als von Menschen erkennbaren und gestaltbaren Raum behaupten, in dem die Technik materielle und die Politik soziale Veränderungen planen und hervorrufen kann. Die prognostische Erfindung zukünftiger Ereignisse in zahlreichen Utopien und Zukunftsromanen um 1900 stößt auf die Grenzen des gesicherten Wissens über die Gegenwart und die unvorhersehbare Reaktion der Betroffenen, so dass es nur wahrscheinliche Zukünfte geben kann. Dem trägt der Zukunftsroman bzw. die Science Fiction als narratives Gedankenexperiment Rechnung durch den anschaulichen Entwurf von Szenarien, in denen zwar ein Novum der Kern der imaginierten zukünftigen Welten ist, aber das menschliche Verhalten die Hauptrolle spielt. Wells präsentiert in seiner "Zeitmaschine" das Symbol dieses Romans, Laßwitz verbindet utopische Vorstellungen und wissenschaftliche Theorien, und die amerikanische Science Fiction kultiviert in der Nachfolge Vernes die technischen Erfindungen. Zentrale Motive dieser erfundenen Zukunft sind die Eroberung des Weltraums und die Ersetzung des biologischen Menschen durch ein höheres Wesen. In der realen Geschichte zeigt sich die Wechselwirkung von Literatur, Wissenschaft, Technik und Gesellschaft.
Prof. Dr. Hans Esselborn lehrte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Köln. Habilitation 1987: Das Universum der Bilder. Die Naturwissenschaft in den Schriften Jean Pauls. Schwerpunkte in Lehre und Forschung: Aufklärung und Jean Paul, Klassische Moderne: Expressionismus und Weimarer Republik, Literatur und Film, Interkulturalität, Literatur und Naturwissenschaft/Technik (Science Fiction). Zur Science Fiction neben zahlreichen Aufsätzen: Die literarische Science Fiction. Textband und Materialienband. Hagen 2000; Utopie, Antiutopie und Science Fiction im deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts. Hg. mit einem Vorwort. Würzburg 2003; Ordnung und Kontingenz. Das kybernetische Modell in den Künsten. Hg. mit einem Vorwort. Würzburg 2009. Mitherausgeber der Gesamtausgabe von H.W. Franke.
Nächster Vortrag in dieser Reihe:
PD Dr. Sabine Wienker-Piepho
(Privatdozentin, Lehrstuhl für Volkskunde (Empirische Kulturwissenschaft), Friedrich-Schiller-Universität Jena)
»Wie lang ist die Ewigkeit«? – Chronotopoi in Märchen, Mythen und Sagen
Mittwoch, 25. Mai 2016, 18:15 Uhr, N 1 (Muschel)