Prof. Dr. Hans J. Markowitsch – Vortragsexposé – Sommersemester 2012

STUDIUM GENERALE: MAINZER UNIVERSITÄTSGESPRÄCHE
"WER IST ICH?"

Prof. Dr. Hans J. Markowitsch (Bielefeld)

Das autobiographische Gedächtnis bestimmt das Ich

Mittwoch, 13. Juni 2012, 18.15 Uhr, Hörsaal N 1 (Muschel)

'Ich' zu sagen gehört für die allermeisten Menschen zu den größten Selbstverständlichkeiten und geht einher mit einer zumindest vermeintlich recht klaren Vorstellung über sich selbst. Auf der anderen Seite kennen Belletristik (z. B. Oscar Wildes Bildnis des Dorian Gray) wie der Volksmund zahlreiche Beispiele für ein sich wandelndes, ein unstetes Selbst, ganz zu schweigen von religiösen Vorstellungen, wie die des eine unwandelbare Identität verneinenden Buddhismus. Auf wissenschaftlicher Ebene verwies der Psychologe William James schon vor gut 100 Jahren auf die Spaltung in 'I' und 'Me' und die Psychiatrie verwendete nicht nur Termini wie Spaltungsirresein, sondern benutzte und benutzt auch Begriffe wie 'multiple Persönlichkeit' und 'dissoziative Identitätszustände'. Die gegenwärtige Philosophie diskutiert das Selbst in Büchern wie "Willensfreiheit und Determinismus" (Gottfried Seebaß) und "Being No One" (Thomas Metzinger). Aus ontogenetischer Perspektive entsteht das Selbst im sozialen Kontext und verändert sich über die Lebensspanne in Abhängigkeit von unzähligen Determinanten, die teils in der Umwelt, teils im Gehirn zu suchen sind. Diese Metamorphosen anhand der Entwicklung und Veränderung des autobiographischen Gedächtnisses zu erläutern und neurologische und psychiatrische Krankheitsfälle zur Illustration heranzuziehen, die demonstrieren, dass das Ich fragil und anfällig gegenüber Umwelteinflüssen und Stresszuständen ist, ist Ziel des Vortrags.

Hans J. Markowitsch ist Professor für Physiologische Psychologie an der Universität Bielefeld. Er studierte Psychologie und Biologie an der Universität Konstanz, war in Kopenhagen an der Medizinischen Fakultät und hatte Professuren für Biopsychologie an den Universitäten von Konstanz und Bochum inne und erhielt Rufe auf Professuren für Psychologie und Neurowissenschaften von australischen und kanadischen Universitäten. Er leitet die Gedächtnisambulanz der Universität Bielefeld. Seine Forschungsgebiete sind in den Bereichen von Gedächtnis und Gedächtnisstörungen, Bewusstsein, Emotion und Zeugenglaubwürdigkeit. Er ist Autor oder Herausgeber von mehr als 20 Büchern und über 600 Buch- und Zeitschriftenartikeln. – Publikationen: Markowitsch, H. J. (2009). Das Gedächtnis: Entwicklung – Funktionen – Störungen. München: C.H. Beck. Kühnel, S. & Markowitsch, H. J. (2009). Falsche Erinnerungen. Heidelberg: Spektrum.

Nächster Vortrag in dieser Reihe:
Prof. Dr. Ernst Pöppel (Medizinische Psychologie, LMU München)
Wo Ich war, soll Es werden – die Sicht eines Hirnforschers
Mittwoch, 4. Juli 2012, 18.15 Uhr, Hörsaal N 1 (Muschel)