Prof. Dr. Heinz-Otto Peitgen – Vortragsexposé – Sommersemester 2005

STUDIUM GENERALE: MAINZER UNIVERSITÄTSGESPRÄCHE
zum Themenschwerpunkt
»ZUFALL – SCHICKSAL – NOTWENDIGKEIT«

Prof. Dr. Heinz-Otto Peitgen
(Universität Bremen und Florida Atlantic University, USA)

Ordnung im Chaos – Chaos in der Ordnung
– Wenn Grenzen fließend werden –

Mittwoch, 29. Juni 2005, 18.15 Uhr, Hörsaal N 1 (Muschel)

Chaosforschung – das interessanteste Forschungsgebiet, das es gegenwärtig gibt. Ich bin davon überzeugt, dass die Chaosforschung eine ähnliche Revolution in den Naturwissenschaften bewirken wird, wie es die Quantenmechanik getan hat.
Gerd Binnig, Nobelpreisträger für Physik

Die statischen und dynamischen Phänomene der belebten und unbelebten Natur werden durch Myriaden von Prozessen gesteuert. Von der Antike bis Ende des 17. Jahrhunderts werden die meisten der beobachtbaren Naturphänomene der Domäne mystischer Gesetze oder der Domäne des Chaos zugerechnet. Fassbare Regeln und Gesetze werden für unmöglich gehalten und bekannte Gesetze scheinen nicht zu gelten.
Beginnend mit Keppler und Newton tritt eine fundamentale Wandlung und neue Entwicklung ein. Die Mathematik verbindet sich mit den Naturwissenschaften und erweist sich als erstaunlich erfolgreiche und produktive Sprache für ihre Gesetze und Regeln. Schrittweise lichtet sich das Chaos und es scheint nur eine Frage der Zeit, bis alle Naturphänomene gesetzmäßig erfasst sein werden, bis mathematische Ordnung das mystische Chaos vollständig verdrängen kann. Von den großen Fragen der Entstehung und der Eigenschaften des Kosmos bis hin zu den Fragen, wie die kleinsten Bausteine der Materie zusammenwirken, entstehen im 19. und 20. Jahrhundert geniale Theorien, die den Glauben an eine mathematische Hand hinter allen Phänomenen immer entschiedener festigt.
Die universelle Gültigkeit dieses aus der unbelebten Natur stammenden Fahrplans für die endgültige Entmystifizierung der Natur und ihre schnell nachfolgende technische Unterwerfung scheint sich in den atemberaubenden Entdeckungen im Zusammenhang mit dem genetischen Code auch in der belebten Natur zu bestätigen. Die jüngsten Verheißungen der Gentechnologie liefern einen drastischen Beleg dafür, wie sich ein naturwissenschaftliches Weltbild umfassend anmaßt, Gott in die Räder greifen zu können. Hörte man in den 80er Jahren Prophezeiungen, wonach bald Wetter, Klima und Kriege mathematisch be¬herrschbar und zu unseren Gunsten manipulierbar sein werden, hören wir heute, dass Lebewesen entsprechend einer Wunschliste machbar sein sollen. Dieses Bild einer grenzenlosen Unterwerfung der Natur bedeutet nichts anderes als die vollständige Verdrängung des Chaos und des Zufalls aus der Natur. Es wird ermöglicht durch die übergreifende Rolle der Mathematik in allen Naturwissenschaften.
Die Chaostheorie setzt gegen dieses umfassende, ausschließliche mathematische Weltbild einen Kontrapunkt. Die wesentlichen Entdeckungen der Chaostheorie zeigen ein anderes Bild von Natur, das in Harmonie mit den gesicherten mathematischen Errungenschaften zu sehen ist: Sie machen uns mit mathematischer Präzision und Gültigkeit klar, dass selbst dort, wo strenge Gesetze sogar ohne jeden Einfluss von Zufall wirken, die exakte Kenntnis dieser Gesetze uns dennoch nicht erlaubt, praktische Vorhersagen zu treffen. Dies heißt, dass das in der Tat immer feinmaschiger werdende Netz, das Natur in Mathematik abbildet und kodiert, so etwas wie prinzipielle schwarze Löcher hat und für immer behalten wird.
Einen weiteren Kontrapunkt setzt die Chaostheorie gegen das verbreitete Paradigma der Kernphysik, Molekularbiologie und Gentechnologie, dass das Ganze aus dem Verständnis der Teile erschlossen werden kann. Mit mathematischer Präzision belegt die Chaostheorie, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.
Eine erstaunliche Eigenschaft natürlicher Muster und Strukturen besteht schließlich in der Tatsache, dass ihr Entstehungsprozess stets einer gehörigen Portion Zufall ausgesetzt ist. Und doch entstehen immer wieder die gleichen Muster und Strukturen in makelloser Regelmäßigkeit und Stabilität, gerade so, dass es schwer fällt zu glauben, dass Zufall überhaupt präsent war. Erkenntnisse aus der Chaostheorie haben die Sicht der Dinge fundamental verändert. Es gibt eine Reihe neuer Ergebnisse, die auf die grundlegende sowie notwendige Rolle von Zufall in der bemerkenswerten Stabilität und Reproduzierbarkeit der Muster der Natur hinweisen.
Der Vortrag präsentiert die Rolle der Chaostheorie an leicht zugänglichen Beispielen, unterstützt durch Computerexperimente und Live-Experimente, und diskutiert Anwendungen in Medizin und Technik.

Heinz-Otto Peitgen, Prof. Dr. rer. nat., 1945 in Bruch bei Köln geboren, studierte von 1965 bis 1971 in Bonn Mathematik, Physik und Ökonomie. Nach Promotion in Mathematik 1973 und Habilitation 1977 lehrte er am Institut für Angewandte Mathematik der Universität Bonn als Privatdozent; im selben Jahr Berufung auf eine Professur für Mathematik an die Universität Bremen, dort maßgebend an der Gründung und dem Aufbau eines Instituts für Dynamische Systeme beteiligt. In dessen Rahmen gründete er 1982 ein Computergraphiklabor für mathematische Experimente. Seit 1992 ist er Direktor des Centrums für Complexe Systeme und Visualisierung (CeVis) an der Universität Bremen. Von 1985 bis 1991 Professor für Mathematik an der University of California at Santa Cruz; seit 1991 auch Professor für Mathematik und Biomedizinische Wissenschaften an der Florida Atlantic University in Boca Raton, Florida. Im Jahr 1992 wurde er in die Europäische Akademie der Wissenschaften und Künste berufen. 1995 gründete er das Centrum für Medizinische Diagnosesysteme und Visualisierung (MeVis) GmbH, dessen Geschäftsführer er ist. Er erhielt mehrere Rufe an deutsche und amerikanische Universitäten und war Gastprofessor an Universitäten in Belgien, Brasilien, Canada, USA, Mexiko und Italien. Er ist Autor mehrerer preisgekrönter Bücher und Filme, die dazu beigetragen haben, die Fraktale Geometrie und die Chaostheorie weltweit bekannt zu machen, und ist Mitherausgeber mehrerer internationaler Fachzeitschriften. Seine wissenschaftlichen Fachgebiete sind Dynamische Systeme, Numerische Analysis, Computergraphik, Bild- und Datenanalyse und –verarbeitung und Computerunterstützung in der bildbasierten medizinischen Diagnostik und Therapieplanung. Heinz-Otto Peitgen erhielt 1996 das Bundesverdienstkreuz erster Klasse für seine Leistungen in Wissenschaft und Forschung in computerunterstützter Radiologie und Chirurgie und ist Träger zahlreicher weiterer Auszeichnungen und Preise.

Abschlussvortrag dieser Reihe:
Prof. Dr. Arnold O. Benz (Institut für Astronomie, ETH Zürich)
Sterne, Urknall und Schwarze Löcher: Geschichte und Zukunft des Universums
Mittwoch, 6. Juli 2005, 18.15 Uhr, Hörsaal N 3 (Muschel)