STUDIUM GENERALE: 100. MAINZER UNIVERSITÄTSGESPRÄCHE
"TRADITION IST GEGENWART – ZUR KULTURELLEN WENDE IN DEN WISSENSCHAFTEN"
Prof. Dr. Karl-Heinz Kohl
(Frankfurt am Main)
Die Tradition der Ethnologie und die Rekonstruktion von Traditionen
Mittwoch, 9. Januar 2008, 18.15 Uhr, Hörsaal N 3 (Muschel)
Seit ihren Anfängen ist die Ethnologie von der Vorstellung verfolgt worden, dass die Lokalkulturen, deren Studium sich das Fach lange Zeit widmete, vom Aussterben bedroht seien. Ethnologen von Adolf Bastian über Margaret Mead bis hin zu Lévi-Strauss sahen es daher als ihre wichtigste Aufgabe an, die traditionellen Lebensformen der von ihnen untersuchten Gesellschaften für die Nachwelt so genau wie möglich zu dokumentieren. Die „autochthonen“ Kulturen sind den Einflüssen des Kolonialismus und der westlichen Zivilisation jedoch nicht gänzlich erlegen. Sie haben eine erstaunliche Widerstandskraft bewiesen und passen sich heute erfolgreich auch an die Herausforderungen der Globalisierung an. In den gegenwärtigen neotraditionalistischen Bewegungen in Ozeanien, Südostasien und Afrika spielen die historischen Aufzeichnungen von Ethnologen als Mittel der kulturellen Identitätsfindung eine wichtige Rolle. Doch erhebt sich die Frage, wie „traditionell“ die von ihnen damals dokumentierten Lebensformen tatsächlich waren. Hat es sich dabei nicht vielleicht nur um historische Momentaufnahmen von Gesellschaften gehandelt, die sich schon immer im Wandel befunden haben? Waren es möglicherweise die westlichen Ethnographen selbst, die diese Momentaufnahmen als scheinbar unveränderliche „Traditionen“ festgeschrieben haben?
Karl-Heinz Kohl, geb. 1948 in Fürth/Bay. Seit 1996 Professor am Institut für Historische Ethnologie und Direktor des Frobenius-Instituts an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M.; Promotion und Habilitation an der FU Berlin; ethnographische Feldforschungsaufenthalte in Indonesien; 1988-1996 Prof. für Allgemeine Ethnologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; 2001-2002 Theodor-Heuss-Prof. an der New School for Social Research, New York; o. Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; seit 2007 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde.
Neuere Buchveröffentlichungen: Der Tod der Reisjungfrau. Mythen, Kulte und Allianzen in einer ostindonesischen Lokalkultur, Stuttgart 1998; New Heimat (Ausstellungskatalog; Mithrsg.), New York 2001; Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003; Gestalter und Gestalten. Hundert Jahre Völkerkunde in Frankfurt am Main (Mithrsg.), Frankfurt a. M. 2006.
Nächster Vortrag in dieser Reihe:
Prof. Dr. Harald Welzer
(Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen Institut, KWI Essen, Forschungsprofessor für Sozialpsychologie, Universität Witten/Herdecke)
Über die Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen
Mittwoch, 16. Januar 2008, 18.15 Uhr, Hörsaal N 3 (Muschel)