Prof. Dr. Klaus Lüderssen – Vortragsexposé – Wintersemester 2004/2005

STUDIUM GENERALE – MAINZER UNIVERSITÄTSGESPRÄCHE
WIE FREI IST DER MENSCH?

Prof. Dr. Klaus Lüderssen (Frankfurt am Main)

Aktuelle neurobiologische Forschung und das Strafrecht

Mittwoch, 26. Januar 2005, 18.15 Uhr, Hörsaal N 1 (Muschel)

Eine Gruppe moderner Hirnforscher glaubt, den Strafrechtlern und Rechtsphilosophen zurufen zu sollen: Redet nicht mehr von Freiheit. Auch wenn – was freilich außerhalb der strafrechtlichen Theorie und Praxis kaum gesehen wird – keineswegs ein rigides Konzept der Willensfreiheit Grundlage ist für die Konzeption, jemanden nur für das zu bestrafen, was er zu verantworten hat, muss den provokativen Hinweisen nachgegangen werden. Dabei wird sich zeigen, dass die wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen für so weitgehende Folgerungen von jenen Gehirnforschern nicht erfüllt werden. Vielmehr überbrücken sie eine nicht genau bestimmte Sphäre des Nichtwissens mit evolutionsbiologischen Spekulationen. Wenn man das erkannt hat, ist es leichter, die geisteswissenschaftlichen Gegenpositionen zu begreifen. Sofern diese darauf hinauslaufen, dualistisch zu argumentieren, müssen sie sich entgegenhalten lassen, dass ein imaginärer geistiger Dirigent im nachmetaphysischen Zeitalter schwer vorstellbar ist. Ernst zu nehmen indessen ist der Standpunkt, dass aus der Wahrnehmung ausschließlich dezentralisierter Hirntätigkeiten keineswegs auf die Nichtexistenz eines die mentalen Vorgänge im Menschen zusammenfassenden Bewusstseins geschlossen werden darf. Diese non-liquet Situation gibt uns vorerst die Freiheit, unsere normativen Vorstellungen über ein mit dem Prinzip der Zurechnung arbeitendes Strafrecht zu kultivieren. Allerdings darf sich dieses Strafrecht neuen Erfahrungen über Determinanten menschlichen Handelns nicht verschließen.

Prof. Dr. Klaus Lüderssen, geb. 1932, hat sich 1970 für die Fächer Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie habilitiert und ist seit 1971 ordentlicher Professor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Seine Interessen konzentrieren sich gegenwärtig vor allem auf Grundfragen der Kriminalpolitik, wissenschaftstheoretische Probleme strafrechtsgeschichtlicher und rechtsphilosophischer Forschung; Wirtschaftsstrafrecht; Recht und Literatur.

Veröffentlichungen: Zum Strafgrund der Teilnahme, 1967; Erfahrung als Rechtsquelle, 1972; Kriminalpolitik auf verschlungenen Wegen, 1981; Kriminologie, 1984; Der Staat geht unter, das Unrecht bleibt? Regierungskriminalität in der ehemaligen DDR, 1992; Abschaffen des Strafens, 1995; Genesis und Geltung in der Jurisprudenz, 1996; »Entkriminalisierung« des Wirtschaftsrechts, 1998; Produktive Spiegelungen. Recht und Kriminalität in der Literatur, 2. Auflage 2002; Schiller und das Recht, 2005; Löwe/Rosenberg, Kommentar zur Strafprozessordnung, 25. Auflage, Band 3 (Abschnitt: Verteidigung), 2004; (Hrsg.) Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das »Böse« – Ein Gegensatz? 5 Bände, 1998.