Prof. Dr. Norbert W. Paul – Vortragsexposé – Wintersemester 2004/2005

Themenschwerpunkt
Wissenschaft und Zeitgeist

Prof. Dr. Norbert W. Paul, M.A.
Prof. für Geschichte und Ethik der Medizin, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

„Wider die Natur?“
Historische und ethische Anmerkungen zur Kontrolle der menschlichen Biologie durch Wissenschaft und Medizin

Montag, 24. Januar 2005, 18.15 Uhr, Hörsaal N 3 (Muschel)

Die Idee, die menschliche Biologie zu kontrollieren und zu verbessern reicht über 2000 Jahre zurück. Der Maßstab und die Kriterien „des Besseren“ sind dabei jedoch zeittypisch jeweils andere, sie sind historisch kontingent und sozial konstruiert.
Aus der frühen Ideengeschichte sind vor allem Konzepte der Züchtung zur Verbesserung der Nachkommenschaft – wie sie etwa Plato (427-347 v. Christ.) in seiner Politeia und später Francis Bacon (1561-1626), Tommaso Campanella (1568-1639) und Morus (1478-1535) vorstellt – mit der Utopie einer Selbstkontrolle unserer Spezies verbunden worden. Seit dem 19. Jahrhundert spielten Naturwissenschaft, Medizin und Technologie eine dominante Rolle bei dem Versuch des Menschen, Herr seiner selbst und Planer seiner biologischen Zukunft zu werden. Dabei sind die Grenzen zwischen sozialen, wissenschaftlichen und medizinischen Vorstellungen und Werthaltungen nur selten klar auszumachen und alte Utopien schwingen häufig mit, wenn der Mensch der Moderne über die Selbstbestimmung seiner Evolution nachdenkt.
Der Vortrag spürt ausgehend von gesellschaftlichen Utopien und den Vorstellungen einer allgemeinen Degeneration des Menschen im „Fin de siècle“ der Frage nach, wie der Mensch zum biomedizinischen Optimierungsprojekt wurde. Dabei werden Brüche und Kontinuitäten thematisiert, die sich im Hinblick auf die Entwicklungslinien vom Darwinismus über die Konstitutionslehre im frühen 20. Jahrhundert hin zur Sozial- und Rassenhygiene bis in die Zeit nach 1945 ergeben. Insbesondere auch neuere und neueste Ansätze, wie die der Molekularen Medizin und der Regenerativen Medizin, werden in ihren historischen und kulturellen Kontext gestellt und in Bezug auf ihre gesellschaftliche Reichweite kritisch hinterfragt.

Univ.-Prof. Dr. Norbert W. Paul, M.A., Jg. 1964, studierte Philosophie, Geschichte, Germanistik und Medizin. 1999 bis 2000 Gastprofessur als Forschungsstipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung an der Stanford University in Kalifornien; Gastwissenschaftler und zeitweises Mitglied des Vorstandes am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin, 2002-2003. Seit dem Sommersemester 2004 C4-Professor für Geschichte und Ethik der Medizin in Mainz und die Leiter des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Johannes Gutenberg-Universität .

Publikationen des Referenten zum Vortrag:
(2002). Genes, Information, Volatile Bodies. In: Health and Quality of Life. Philosophical, Medical, and Cultural Aspects. A. GIMMLER, C. LENK and G. AUMÜLLER, eds., Münster: 187-198
(2003). The Representational Framework of Health and Disease. In: Tradtitions of Pathology in Western Europe. Theories, Institutions and their Cultural Setting. C.-R. PRÜLL, ed., Pfaffenweiler: 123-138
mit D. GANTEN (2003). Zur Zukunft der Molekularen Medizin. In: Das genetische Wissen und die Zukunft des Menschen. L. HONNEFELDER, D. MIETH, P. PROPPING, L. SIEP and C. WIESEMANN, eds., Berlin: 103-114

Nächster Vortrag dieser Reihe:
Prof. Dr. Carola Lentz, Professorin für Ethnologie, Institut für Ethnologie und Afrikastudien, Universität Mainz
Primitive Anarchisten oder traditionelle Demokraten?
Eine afrikanische Gesellschaft im Spiegel europäischer Theoriegeschichte
Montag, 31. Januar 2005, 18.15 Uhr, N 3 (Muschel)