Studium generale – Ringvorlesung zum Themenschwerpunkt »Wissenschaft und Zeitgeist«
Prof. Dr. Rüdiger vom Bruch
(Professor für Wissenschaftsgeschichte, Humboldt-Universität Berlin)
Historiker als öffentliches Gewissen der Nation.
Geschichtswissenschaft im Kaiserreich
Montag, 22. November 2004, 18.15 Uhr, Hörsaal N 3 (Muschel)
Schon die Antike mahnte Historiker, „sine ira et studio“, also unparteiisch zu berichten, nicht persönliche Wertmaßstäbe anzulegen. Umgekehrt gelte „historia non magistra vitae“, aus der Geschichte könnten keine Lehren für aktuelle Probleme und Entscheidungen bezogen werden. Gehören Historiker darum in den Elfenbeinturm „reiner Wissenschaft“? Daß kein Historiker sich von dem ihn prägenden und umgebenden Zeitgeist in seiner Arbeit zu lösen vermag, versteht sich von selbst. Aber trägt er nicht auch öffentliche Verantwortung, weil der historische Blick ein Problembewußtsein für Politik, Kultur und Gesellschaft schärft? Gerade bedeutende Historiker haben zu allen Zeiten eine solche Verantwortung empfunden, besonders dicht und zugleich einflußreich in der Zeit des deutschen Kaiserreichs 1871-1918. Warum war das so? Warum sahen gerade jene Historiker eine solche Verantwortung, die von Ranke nicht nur die historische Methode, sondern auch das Ideal der historischen Objektivität gelernt hatten? Warum war die Öffentlichkeit bereit, ihre Stellungnahmen zur Gegenwart so ernst zu nehmen? Der Vortrag behandelt zunächst die Bismarckzeit (bis 1890) als eine Blüte der sog. „politischen Historiker“, welche Reichseinigung und innere Einheit engagiert begleiteten und um 1880 Wortführer im sog. „Antisemitismusstreit“ waren. Noch spannender ist die Wilhelminische Epoche, als sich die Historiker entschiedener wieder auf Ranke besannen, aber gerade darum tonangebend die öffentlichen Debatten um innere Reformen oder um deutsche Weltpolitik begleiteten. Sie waren, nach einem Wort des zeitgenössischen Bildungshisto¬rikers Friedrich Paulsen, das „öffentliche Gewissen der Nation, in Absicht auf gut und böse.“
Prof. Dr. Rüdiger vom Bruch, geb. 1944, lehrte in München, Regensburg und Tübingen und übernahm 1993 an der Humboldt-Universität zu Berlin den Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte. 1996/97 lehrte er im Auftrag der Bundesrepublik als „Adenauer-Professor“ an der Georgetown University in Washington D.C. Der Schwerpunkt seiner zahlreichen Publikationen liegt auf der deutschen Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte im 19./20. Jahrhundert. Derzeit leitet er das DFG-Schwerpunktprogramm „Wissenschaft, Politik und Gesellschaft“ sowie (zusammen mit Ulrich Herbert) eine Forschergruppe zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1920-1970. Er gibt seit 1998 das Jahrbuch für Universitätsgeschichte sowie seit 2001 die Schriftenreihe „Pallas Athene“ zur Universitäts- und Wissen¬schaftsgeschichte heraus.
Nächster Vortrag dieser Reihe:
Prof. Dr. Hubert Locher (Prof. für Kunstgeschichte, Akademie der Bildenden Künste Stuttgart)
Die „Stunde Null“ und die Kunstgeschichte in Deutschland – Über die Schwierigkeiten des Faches im Umgang mit den Fragen der Zeit
Montag, 6. Dezember 2004, 18.15 Uhr, N 3 (Muschel)