Prof. Dr. Stephan Grätzel – Vortragsexposé – Sommersemester 2015

Themenschwerpunkt des Studium generale:

SCHULD UND STRAFE



Prof. Dr. Stephan Grätzel

(Johannes Gutenberg-Universität Mainz)

"Und was man ist, das blieb man andern schuldig."

Existenzielle Schuld aus philosophischer Perspektive

Montag, 22. Juni 2015, 18:15 Uhr, Hörsaal N 1 (Muschel)

"Und was man ist, das blieb man anderen schuldig" lautet ein Vers aus Goethes Tasso (V 106). Er drückt in aller Kürze und Prägnanz die menschliche Ur-Schuld oder Daseinsschuld aus. Diese Schuld ergibt sich aus der bloßen Tatsache zu existieren und dabei die eigene Existenz in ihren unterschiedlichen Bezügen und Beziehungen zu den Anderen, zur Welt und zu sich selbst zu erkennen und zu verstehen. Sie ist das Wissen um einen Ursprung, von dem das eigene Leben, aber auch alles Leben ausgeht und geschenkt ist. Jeder Mensch weiß sich diesen Ursprüngen gegenüber verdankt und verschuldet.

Im Unterschied zu anderen Schuldformen ist diese Schuld nicht strafrechtlich oder politisch zu ahnden. Sie wird folglich im modernen und aufgeklärten Bewusstsein fast nicht mehr als Schuld erkannt und empfunden. Dabei spielt der Wandel vom Schuldprinzip zum Kausalprinzip eine maßgebliche Rolle. Gleichwohl manifestiert sich die existenzielle Schuld in ihrer diffusen Form der 'kafkaesken' Schuld als Kollektivschuld nach Großverbrechen, in Krankheiten, aber auch in der Abwehr und Verschiebung auf die 'Schuld der ‚Anderen'. Die Frage ist also, wie existenzielle Schuld heutzutage erkannt und vergolten werden kann.



Stephan Grätzel, (geb. 1953) ist seit 1998 Universitätsprofessor für Philosophie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und leitet dort den Arbeitsbereich Praktische Philosophie. In der Forschung beschäftigen er und sein Team sich mit der menschlichen Handlung und deren Verankerung in Sprache und Kommunikation. Die leitende Frage der Praktischen Philosophie, "Wie kann Leben gelingen?", wird hierbei in den Grenzsituationen des Lebens: Leid, Schuld und Tod, aber auch in der Gestaltung des alltäglichen Lebens und seiner Lebenswelt behandelt. Publikationen zum Thema: Dasein ohne Schuld (2004), Schuld. Themenhefte zur Ethik (2005) sowie zahlreiche Aufsätze zur Schuldfrage in Zeitschriften und Büchern.

Nächster Vortrag in dieser Reihe:

Prof. Dr. Henning Saß

(Professor em. für Psychiatrie und Psychotherapie, ehem. Ärztlicher Direktor und Vorsitzender des Vorstands des Universitätsklinikums Aachen, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen)

Wille, Willensfreiheit und Schuldfähigkeit aus psychopathologischer Sicht

Montag, 29. Juni 2015, 18:15 Uhr, Hörsaal N 1 (Muschel)