Mainzer Universitätsgespräche
"Standpunkte, Koordinaten, Horizonte – Sich in der Welt orientieren"
Prof. Dr. Hanspeter A. Mallot
Professor für Kognitive Neurowissenschaft · Member des Exzellenzclusters "Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften CIN", Eberhard Karls Universität Tübingen
Mathematischer und kognitiver Raum: von der Geometrie zum Verhalten
Mittwoch, 24. Oktober 2018, 18:15 Uhr, Hörsaal N 1 (Muschel)
Sich in der Welt zu orientieren ist eine grundlegende Aufgabe des kognitiven Verarbeitungssystems vieler Tiere und des Menschen. Raumkognition, also die Fähigkeit, Orte wiederzuerkennen und wiederzufinden, Wege zu planen und zu kommunizieren oder räumlich-visuelle Vorstellungen von Räumen und räumlichen Objekten aufzubauen, zählt zu den elementaren und evolutionär alten Leistungen der Kognition. Räumliches Denken strukturiert Erinnerungen, Vorstellungen und Handlungspläne und durchdringt in Form räumlicher Metaphern auch andere, nicht-räumliche Bereiche der Kognition, wie Sozialverhalten und Problemlösen.
Theorien des Raumes bauen seit Euklid und Pythagoras auf den Beziehungen zwischen Punkten und Geraden sowie auf der Messbarkeit (Additivität) von Längen auf und identifizieren seit Descartes den Raum mit Zahlenwerten in einem Koordinatensystem. Demgegenüber weist der kognitive Raum eine ganze Reihe von Abweichungen auf, die im Wesentlichen zwei Ursachen haben: Zum einen enthält das Ortsgedächtnis nicht (nur) Informationen über den absoluten Raum, sondern auch über die Dinge, Ereignisse und Handlungsoptionen, die im Raum vorhanden, vorgefallen oder möglich sind. Zum anderen ist der kognitive Raum aus diskreten Orten, nämlich den Standorten und Schauplätzen dieser Dinge und Ereignisse aufgebaut, sowie durch Beschreibungen der Wege zwischen den diskreten Orten.
Der Vortrag gibt einen Überblick über aktuelle Theorien des kognitiven Raumes aus der Psychologie, Kognitionswissenschaft und Neurowissenschaft und diskutiert vergleichbare Raumkonzepte in der Robotik und bei Geo-Informationssystemen.
Hanspeter A. Mallot studierte ab 1977 Biologie und Mathematik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Nach der Promotion bei Werner von Seelen und Christoph von Campenhausen (1986, ausgezeichnet mit dem Promotionspreis der Johannes Gutenberg-Universität) arbeitete er am Massachusetts Institute of Technology (Cambridge MA) und dann am Institut für Neuroinformatik der Ruhr-Universität Bochum. Ab 1993 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen, von wo er im akademischen Jahr 1996/97 als "Fellow" ans Wissenschaftskolleg zu Berlin ging. Seit 2000 leitet er den Lehrstuhl für Kognitive Neurowissenschaft am Institut für Neurobiologie der Universität Tübingen (Kurz-Url: http://bit.ly/2xTbHAu). 2007 war er Gründungsmitglied des Tübinger Werner-Reichardt-Zentrums für Integrative Neurowissenschaft (CIN). Im Sommer 2018 war er lokaler Organisator der Internationalen Konferenz Spatial Cognition 2018 in Tübingen. Seine Forschungsinteressen sind die Raumkognition sowie die Informationsverarbeitung in sensorischen Systemen.
Nächster Vortrag in dieser Reihe:
Prof. Dr. Timo Heimerdinger
(Professor für Europäische Ethnologie · Leiter des Forschungsschwerpunktes "Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte", Leopold-Franzens-Universität Innsbruck)
Was soll ich tun? Ratgeber und Ratsuchende in der Spätmoderne
Mittwoch, 7. November 2018, 18:15 Uhr, Hörsaal N 1 (Muschel)