Mainzer Universitätsgespräche
"Standpunkte, Koordinaten, Horizonte – Sich in der Welt Orientieren"
Prof. Dr. Timo Heimerdinger
Professor für Europäische Ethnologie, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck
Was soll ich tun?
Ratgeber und Ratsuche in der Spätmoderne
Mittwoch, 7. November 2018, 18:15 Uhr, Hörsaal N 1 (Muschel)
Was soll ich tun? – Diese kantische Frage ist wahrlich keine spätmoderne Erfindung, ebenso wenig wie die Geschichte der Beratung und der Ratsuche. Doch auffällig ist gleichwohl, dass in den vergangenen Jahrzehnten die Menge an professionellen Beratungsangeboten sprunghaft angestiegen ist: Sowohl in Form persönlicher Beratung als auch auf dem Buchmarkt und selbstverständlich in besonderer Weise nun auch in den Weiten des digitalen Alls tummeln sich Ratschläge und Ratgeber für alle nur erdenklichen Lebenslagen und Lebensfragen. Der Vortrag widmet sich zunächst in einem kurzen Überblick der Kulturgeschichte des Ratschlags, um dann anhand alltagsnaher Beispiele aus den Bereichen des Ernährungs-, des Erziehungs- und des Gesundheitshandelns den Versuch zu unternehmen, eine Spezifik der spätmodernen Ratsuche zu umreißen: Unter den Bedingungen von Enttraditionalisierung bei gleichzeitiger Verwissenschaftlichung vieler Alltagsfelder wird die Situation für die Menschen zunehmend unübersichtlich. Die Frage, was denn nun eigentlich zu tun sei, gerät zur drängenden Daueraufgabe. Nicht mehr das mangelnde Wissen ist dabei das zentrale Problem, sondern das überbordende. Für fast jede beliebige Meinung gibt es einen Verfechter, doch wer hat nun recht? An die Stelle des Wissens tritt nun – so die These – der Mut zur Entscheidung, der in spätmodernen Verhältnissen als Geste der Selbstvergewisserung fungiert.
Timo Heimerdinger ist Professor für Europäische Ethnologie an der Universität Innsbruck. Er studierte an den Universitäten Freiburg i. Br. und Pisa die Fächer Volkskunde, Neuere Deutsche Literaturgeschichte und Deutsche Philologie und war dann als Wissenschaftler in Dresden, Kiel (maritim-ethnografische Promotion ″Der Seemann″ 2004) und Mainz beschäftigt. Er beschäftigt sich mit Phänomenen der Alltagskultur seiner eigenen wie fremder Gesellschaften in historischer wie gegenwärtiger Perspektive: Kleidung und Tracht, Körperlichkeit und Emotion (insbesondere Ekel), Ratschlag, Beratung und Ratlosigkeit sowie Elternschaftskultur sind seine derzeitigen Arbeitsschwerpunkte. Im Zentrum der Forschungen steht dabei stets der handelnde Mensch, der sich durch kulturelle Äußerungen seines Platzes in der Gemeinschaft versichert und so im täglichen Leben unablässig Identitätsarbeit leistet.
Nächster Vortrag in dieser Reihe:
Prof. Dr. Dr. h.c. Heinz-Elmar Tenorth
(Professor em. für Historische Erziehungswissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin)
Bildung – über den Umgang mit Offenheit und Unbestimmtheit
Mittwoch, 21. November 2018, 18:15 Uhr, Hörsaal N 1 (Muschel)